Ein Sturz mit dem Mountainbike im Wald. Bewusstlosigkeit und keine Helfer in der Nähe. Hier kann in Zukunft ein kleiner Sensor am Fahrradhelm zum großen Retter werden. Drei Freiburger haben den so genannten Tocsen entwickelt. Mit der Verbindung zur App wird bei einem Unfall und ausbleibender Reaktion des Gestürzten eine Push-Nachricht an ausgewählte Kontakte und Biker in der Nähe gesendet.
Von Anna-Lena Gröner
Hohe Geschwindigkeit, enge Passagen, steile Gefälle, Adrenalin pur. Freiburg und Umgebung sind ein Eldorado für Radsportler. Das gesamte Mountainbikenetz im Naturpark Schwarzwald erstreckt sich über eine Gesamtlänge von rund 3500 Kilometern. Viel Platz, um Spaß zu haben und sich auszupowern. Jedoch auch viel Platz, um sich aus dem Weg zu gehen. Bei einem Sturz kann genau das zum Problem werden: Niemand ist da, der helfen kann. Alexander Schumacher, Malte Buttjer und Andreas Botsch bekommen seit einiger Zeit viele solcher Unfall-Geschichten erzählt.
Für die Entwickler von „Tocsen“ eine Bestätigung dafür, mit ihrem Produkt etwas Gutes und Sinnvolles zu machen. Auch ein gemeinsamer Freund hatte sich vor zwei Jahren bei einem Mountainbike-Unfall schwer verletzt. Genickbruch, er wurde bewusstlos von zwei Wanderern gefunden. Dieser Zufall war seine Rettung. Die Geschichte nahm ein gutes Ende und war gleichzeitig der Anfang von Tocsen, dem Sturzsensor für den Fahrradhelm. Der Name setzt sich zusammen aus dem englischen Wort Tocsin für Alarm und dem Kürzel -sen von Sensor. Und was macht der Wikinger im Logo? „Wikinger sind einfach die coolsten Helmträger“, sa
gt Buttjer.
Gerade einmal so groß wie vier aufeinander gestapelte zwei Euro Münzen ist der Sensor klein und er passt auf jeden Helm. Mit der Verbindung von ihm und der passenden Smartphone-App sollen Rettungsaktionen nicht mehr dem Zufall überlassen, sondern schnelle und gezielte Hilfe ermöglicht werden. Der runde Sensor wird mit einem speziellen Montageband fest an den Helm geklebt und misst die Stärke des Aufpralls. Ist der Wert ungewöhnlich hoch, sendet die App eine Nachricht aufs Handy des Gestürzten und fragt, ob alles in Ordnung ist. Wird nicht bestätigt, wird ein Notruf mit den aktuellen GPS-Daten an die gesamte Tocsen Community sowie an die in der App hinterlegten Kontakte geschickt. Hilfe ist unterwegs.
Der Unterschied zu anderen Sturzerkennungs-Apps: „Wir gehen direkt an den Kopf“, sagt Schumacher. Nicht über das gut verstaute Handy wird der Aufprall registriert und gemessen, sondern direkt dort, wo es weh tut und am heftigsten ist. Ein weiterer Tocsen-Vorteil: die App ist Akku-freundlich, da sie nicht parallel zum Bikeausflug laufen muss. Notrufsystem für den Helm Neben den Notruf-Nachrichten über WhatsApp, SMS und Facebook-Messenger denken die Tocsen-Männer außerdem schon über Roboter-Anrufe nach. So genannte eCalls sind in der Automobilindustrie längst Standard, seit dem 31. März dieses Jahres müssen alle neuen Modelle mit dem automatischen Notrufsystem ausgestattet werden. Warum also nicht auch ein Notrufsystem für den Helm?
Der Empfang kann dabei noch ein kleines Problem darstellen. Zwar braucht die Tocsen-App lediglich normales Telefonnetz, doch selbst das ist im Schwarzwald nicht immer gegeben. „Solche Probleme sind inspirierend“, sagt der 31-jährige Buttjer. „Wir haben hierfür bereits mehrere Lösungsansätze. Zum Beispiel einen zeitlich einstellbaren Alarm, der auch ohne Netzempfang nach eingestellter Zeit ausgelöst wird.“ Über die App soll man künftig zudem einsehen können, welcher Trail über welche Netzabdeckung verfügt. Die Erfinder von Tocsen haben vor anderthalb Jahren mit der Entwicklung ihres Rettungssensors begonnen. Der Prototyp war im April dieses Jahres fertig, alle notwendigen Daten wurden gesammelt.
„Mit der Konstruktion sind wir fertig, nun soll die Produktion beginnen“, sagt Alexander Schumacher, Diplom- Ingenieur für Fahrzeugtechnik. Er und Andreas Botsch, Volkswirt und Strategic Industry Manager, haben zuvor beide beim Sensorhersteller Sick gearbeitet. Malte Buttjer ist Designer und Entwickler von digitalen Medien und hat mit der Brainspin GmbH bereits sein eigenes E-Commerce Unternehmen. Zusammengebracht haben sie die gemeinsamen Hobbies Mountainbiken und Klettern. Die beruflichen Kompetenzen sowie der Unfall des gemeinsamen Freundes machten die Bike und Boulder Buddies schließlich zu Geschäftspartnern. Das angepeilte Ziel: Jeder Radsportler sollte einen Tocsen tragen.
Das sind in Deutschland immerhin neun Millionen. Bei einer Crowdfunding-Kampagne, die vom 1. November bis zum 4. Dezember lief, konnte das Fundingziel von 13.500 Euro schnell überschritten werden. „Das Geld investieren wir in eine Spritzgussmaschine für die Produktion“, sagt der 36-jährige Alexander Schumacher. Mit dem restlichen Geld werde man den Sensor und die App stetig verbessern. Außerdem könne man sich vorstellen, den aktuell sportpinken Tocsen noch in weiteren Farben anzubieten. Produziert wird Anfang nächsten Jahres bei einem lokalen Unternehmen.
Auch bei der Datensicherung setzt man auf ein bekanntes deutsches Rechenzentrum statt auf einen der großen, internationalen Cloudanbieter, wie Amazon, Google oder Microsoft. Denn gerade beim Thema Datenschutz sind die Menschen verunsichert. „Oft wurden wir gefragt, was mit den gesammelten Daten passiert“, sagt Botsch. „Wir werden nicht speichern, wo sich die Leute wie oft aufhalten, sondern lediglich den letzten Standort.“ „Und die Daten werden auch nur dafür genutzt, um anderen helfen zu können“, fügt Schumacher an. Wer den Tocsen-Sensor nicht braucht oder nicht nutzen möchte, der kann die kosten- und werbefreie App trotzdem herunterladen und damit unter anderem als potentieller Helfer registriert werden.
Des Weiteren können die Nutzer über die App erfahren, welche Trails sicher sind, wie man als Ersthelfer reagiert oder welche Informationen für die Bergwacht wichtig sind?. Die Bergwacht Schwarzwald hatte im Jahr 2017 allein im Stadtgebiet Freiburg über 20 Einsätze mit verunfallten Mountainbikern. Im Jahr 2018 sind es bereits jetzt über 30. Tocsen ist damit mehr als nur ein Sturzsensor, es ist eine effektive Sicherheitsapp und ein Netzwerk für Bike-Begeisterte. Im zweiten Quartal 2019 sollen die ersten Tocsen Sensoren über die eigene Website und bei den ausgewählten Einzelhändlern zum Preis von 75 Euro erhältlich sein. Momentan ist der Algorithmus für Mountainbike-Helme optimiert. „Langfristig wollen wir diesen aber auch auf andere Sportarten übertragen“, sagt Botsch. Skifahrer, Snowboarder, Reiter – vielleicht schützt der kleine Wikinger schon bald viele andere kluge Köpfe?