Das nächste große Tunnelding der Schweiz: In den kommenden beiden Jahrzehnten wird eine Logistik-Infrastruktur entstehen, die Straßen und Schienen entlasten soll – auf über 500 Kilometern. Auch mit Anbindung an Baden.
VON JUSTUS AMMANN
Im Dreiländereck gibt es das Bonmot, dass unsere südlichen Nachbarn zwar langsamer, aber gründlicher denken. Mit Blick auf eines der weltweit wahrscheinlich spannendsten Infrastrukturprojekte kann man wohl nur bestätigen: So ist es, und richtig Mut scheinen die Eidgenossen auch zu haben.
„Cargo sous terrain“ (CST) setzt als in jeder Beziehung hochinnovatives Schweizer Verkehrs- und Infrastrukturprojekte globale Maßstäbe. Das digitale Gesamtlogistiksystem soll ab 2031 die großen Zentren der Schweiz verbinden und Schienen sowie Straßen entlasten und mit entscheidend reduzierter Umweltbelastung für die pünktliche Lieferung von Waren für alle sorgen.
Das weltweit beachtete Pionierprojekt hat Anfang Juni die erste gesetzliche Hürde genommen. Der Ständerat – das ist in der Schweiz die kleine Parlamentskammer – hat ohne Gegenstimme das Bundesgesetz zum unterirdischen Gütertransport (UGüTG) verabschiedet. Die beschlossene Gesetzesfassung soll die Interessen der involvierten Akteure (Bund, Kantone, Gemeinden und Grundeigentümer) sowie des Projektkonsortiums CST sicherstellen. Als nächstes wird sich der Nationalrat mit dem Gesetz befassen. Bei günstigem Verlauf könnte das Gesetz so in der zweiten Jahreshälfte 21 auch von der großen Kammer seinen Segen erhalten. Und damit das Zukunftsprojekt noch mehr Rückenwind.
Eine Paketbahn im dreispurigen Tunnel
Warum also will CST die Zukunft der Logistik neu definieren? „Cargo sous terrain“ ist ein Gesamtlogistiksystem für den flexiblen Transport kleinteiliger Güter. Wobei kleinteilig relativ ist. Das Besondere: Ein Tunnelsystem soll künftig Produktions- und Logistikstandorte mit städtischen Zentren der Eidgenossenschaft verbinden. An den so genannten „Hubs“, den oberirdischen Verteilerorten, werden die Waren von den unterirdisch automatisch be- und entladenden, selbstfahrenden, unbemannten Transportwagen abgerufen und sollen dann mit umweltschonenden Fahrzeugen an die Bestimmungsorte in Stadt und Land transportiert werden.
Im dreispurigen Tunnel, auf dem rund um die Uhr selbstfahrende Transportfahrzeuge auf Induktionsschienen fahren, fördert an der Tunneldecke eine schnelle Paket-Hängebahn kleinere Güter in kleinen Losgrössen. Die erste Teilstrecke des CST wird von Härkingen-Niederbipp nach Zürich führen und ist rund 70 Kilometer lang. Geplanter Baubeginn ist im Jahr 2026. Fünf Jahre später, nämlich 2031 soll diese erste Teilstrecke fertiggestellt sein. Auf diesem Abschnitt sind zehn Anschlussstellen vorgesehen. Der Ausbau in Richtung weiterer wichtiger Logistik- und Verteilzentren der Schweiz erfolgt sukzessive. Bis 2045 soll dann ein 500 Kilometer langes Gesamtnetz zwischen Boden- und Genfersee mit Ablegern nach Basel, Luzern und Thun entstehen. Der Strom für den Betrieb des Systems soll nach den Planungen zu hundert Prozent aus erneuerbaren Energien generiert werden.
Auf den ersten Blick scheint die Tunnellösung als entscheidender Innovationssprung. Doch eigentlich ist Tunnelbau – gerade für die Schweiz – technischer Standard. Zwar anspruchsvoll und immer ambitioniert, aber als technische Herausforderung beherrschbar, wie das Beispiel Gotthard-Transversale eindrucksvoll belegt hat – inklusive Termintreue.
Drei Milliarden Franken für den ersten Abschnitt
Doch bei CST ist nicht in erster Linie die ingenieurtechnische Leistung für den Bau der neuen Infrastruktur im Fokus der Innovation. Herzstück des ganzen Systems ist vielmehr eine zukunftsweisende IT-Struktur, die Waren, Wege und Termin intelligent bündelt und den Warenstrom in Echtzeit abbildet. Vorausgesetzt Tunnelspuren und Hängebahn laufen weitgehend störungsfrei, sind die Transportwege komplett berechenbar. Gleichzeitig reduziert sich der Flächenbedarf für die Lagerhaltung massiv, weil der Transport der Güter im engsten Wortsinn „im Fluss“ ist. „Just in Time“ auf einem neuen Level. Die dezentrale Verteilung der Waren an den Hubs mittels herkömmlicher Speditions-Logistik, aber auch durch Kurierdienste mit Scooter, Drohnen und Bikes spannen dann ein feines digitales und physisches Logistiknetz über das ganze Land. Möglicherweise mit einer damit verbundenen Revolutionierung der Fertigung und Handelsstrukturen, die heute noch gar nicht übersehen werden können. „Der komplett neuartige organisierte Warenfluss mit minutengenauer Verfolgung der transportierten Waren mit der damit verbunden IT ist das Rückgrat dieses Projekts“, betont Patrik Aellig, der für die Kommunikation von CST verantwortlich zeichnet. Und gründlich-schweizerisches Denken kommt auch hier zum Ausdruck: „Wenn wir mit diesem Projekt beweisen können, dass solche Warenströme funktionieren, haben wir ein global exportierbares Produkt.“ Mit dem entsprechenden wirtschaftlichen Potenzial, möchte man hinzufügen.
Dieses Potenzial hat Investoren – vor allem, aber nicht nur aus der Schweiz – bewegt, viel Geld in die Hand zu nehmen. Drei Milliarden Schweizer Franken werden es für die Fertigstellung des ersten Teilabschnitts sein. Die Detailplanung bis zum Baustart 2026 ist Stand heute schon komplett finanziert. „Eine nachhaltige Entwicklung der Schweiz liegt klar im Interesse der Schweizerischen Mobiliar. Es ist offensichtlich, dass etwas gegen den drohenden Verkehrskollaps getan werden muss.
Wenn sich ‚Cargo sous terrain‘ nebst den Vorteilen für Logistik und Umweltschutz als sichere Anlage mit nachgewiesener Rendite behaupten kann, ist das für uns als Investor umso interessanter.“ Das ist die so knappe wie trockene Begründung von Peter Brawand, Leiter Finanzen, beim Schweizer Versicherungskonzern für den Einstieg als einer der Hauptaktionäre.
„Für die Idee von CST war es von Anfang an zentral, das Projekt komplett privat zu finanzieren. Wir wollten und wollen maximalen Handlungsspielraum für Entscheidungen. Entscheidungen, die ökonomisch getrieben sind und nicht politisch“, sagt Patrik Aellig dazu. Was nicht bedeute, dass Politik keine Rolle spielen würde. Natürlich brauche man die öffentliche Hand als Partner für den gesetzlichen Rahmen – und „letztendlich ist das Projekt aus einer politischen Erkenntnis oder Notwendigkeit entstanden“.
Was Peter Brawand ungeschminkt als „Kollaps“ bezeichnet, ist in der Schweizer Politik „die absehbare Überlastung des bestehenden Verkehrswegenetzes und die damit verbundenen Emissionen von Lärm und Abgasen“. Dieser Entwicklung will man auch politisch entgegenwirken. Mit der komplett neu gedachten Logistik möchte die Schweiz als kleines Flächenland, das von den Nord-Südverbindungen Europas überproportional verkehrsgeplagt ist, die Tür zu morgen aufstoßen: Die Orientierung an mehr Lebensqualität bei höherer Ressourcen-Effizienz und Schonung von Natur und Umwelt verbindet sich mit wirtschaftlichen Interessen und Chancen.
Investoren auch in Baden
„Das Projekt ist aus meiner Sicht – gerade für Ballungsräume – eine sehr zukunftsweisende Idee und könnte den oberirdischen Verkehr stark reduzieren.“
Karlkristian Dischinger, Geschäftsführer der gleichnamigen Spedition im badischen Ehrenkirchen
Karlkristian Dischinger hat einen interessiert aufgeschlossenen Blick ins Nachbarland. Für den grenzüberschreitenden Verkehr und die damit verbundene Warenlogistik sind seine Erwartungen allerdings eher verhalten: „Gerade grenzüberschreitend sehe ich diese Lösung zum aktuellen Zeitpunkt, insbesondere aufgrund der enormen behördlichen und genehmigungsrechtlichen Hürden derzeit nicht – hier ist insbesondere der Ausbau der Bahnstrecke im Rheintal ein abschreckendes Beispiel“, legt er einen Finger in die Wunde deutschseitiger Behäbigkeit. Deshalb wird das Unternehmen auch nicht im Schweizer Projekt investieren, wie etwa mehrere namhafte Schweizer Speditionen, die als Aktionäre der Cargo sous terrain AG gezeichnet haben.
Die Herrenknecht Tunnelvortriebstechnik aus dem badischen Schwanau wiederum ist als Aktionär aktiv. Allerdings möchte man sich aus vertragsrechtlichen Gründen zum Zukunftsprojekt in der Schweiz nicht äußern.
Die Erne AG, ein großes familiengeführtes Bauunternehmen aus dem Aargau, das auch viele Arbeitskräfte aus der badischen Nachbarschaft beschäftigt, nimmt als weiterer Hauptaktionäre dagegen sehr pointiert Stellung: „Zukunft ist nicht irgendwann: Als wichtiger Arbeitgeber im Aargau und als Unternehmen, das seine gesellschaftliche Verantwortung wahrnehmen möchte, ist für uns die Beschäftigung mit den Herausforderungen von morgen zentraler Bestandteil unserer Strategie. Zukunftsfähigkeit ist auch zentral für uns als Führungskräfte der Erne AG. In diesem Sinne war und ist es konsequent, uns finanziell und ideell beim Gesamtlogistiksystem CST zu engagieren“, begründet Wolfgang Schwarzenbacher, seines Zeichens CEO der Erne Gruppe, die Investition. Visionäres Denken und ebenso visionäres Handeln entspreche zu hundert Prozent der Philosophie von modernem, zukunftsgewandtem Unternehmertum. „Wir möchten gleichzeitig eine Verpflichtung gegenüber unseren Mitarbeitenden, aber auch gegenüber der Region Aargau und der Schönheit dieses Landes einlösen. Das ist es, was das Leben hier nachhaltig lebenswert macht“, lässt er einen Blick auf die unternehmerische Motivation zu. Womit sich der Kreis schließt, was die Gründlichkeit der Eidgenossen angeht