Zwischen Stress und Selbstversuchen: Was der Greta-Effekt mit uns als Bürgern macht.
VON RUDI RASCHKE
Wie dieser Eingangstext zustande kommt? Wir haben uns vor vier Wochen zusammengesetzt und uns gefragt: was passiert eigentlich hier gerade rund ums Thema Klimawandel? Sind wir dabei, DIE große Umwälzung und Bewusstseinserweiterung unserer Zeit zu erleben, mit Zehntausenden auf den Straßen – oder bleibt trotzdem alles beim Alten? Und was macht das mit uns in Südbaden? Dies ist vielleicht das Heft, das am ehesten auf persönlichen Erfahrungen beruht – in der Familie, im Freundes- und Kollegenkreis, in Gesprächen mit Unternehmern und Forschern.
Erstaunlicherweise spielt die Politik dabei nur eine Nebenrolle. Freiburg, im Oktober 2019: Man kann jetzt echt kein Greenwashing, also das Umrubeln zu etwas Umweltfreundlichem, mehr sehen. Bei Alnatura (fünf Filialen in Freiburg, darunter die größte Deutschlands) haben sie selbstgemalte Plakate wie von Kinderhand aufgehängt: „Make Love, not CO2!“ und „Fällt Entscheidungen, keine Bäume!“ Süß, aber weniger niedlich: Darunter liegt auf etwa vier Metern Breite kein einziges Stück Obst aus Deutschland oder gar der Region.
Verständlich bei Bananen oder Ananas, aber eben nicht bei angekarrten Pflaumen aus Spanien und Trauben aus Italien. Und das günstigste Glas Honig in diesem Nachhaltigkeits-Bluff kommt übrigens mit Material aus Costa Rica, Kuba und Brasilien zusammen gerührt. Nicht besser bei Rewe im Kellergeschoss: Gepriesen werden Papiertüten und überteuerte Obstnetze zur Müllvermeidung.
Im Hintergrund leuchten die Kühlschrank-Reihen mit zentnerweise folienverschweißter Wurst von sonstwoher. Weil Rewe die offene Theke abgeschafft hat. Können wir wenigstens davon ausgehen, dass es der Kunde merkt? In Zeiten des Greta-Effekts, der ja nachweislich auch die regionale Wirtschaft aufmischt?
Billig Airlines vs. Deutsche Bahn
Ein paar Monate vorher, London, im Juli 2019: Ein wunderbarer Wochenendausflug, aber auch einer, für den man in der Umwelt-Hölle schmoren wird. Hin und zurück mit Easyjet ab Basel, in Londons Cafés gibt’s die Limo überall ungefragt im Einwegbecher und mit Deckel.
Bei zwei besuchten Open-Air-Konzerten im Hyde Park am Freitag und Samstag werden insgesamt 145.000 Gäste Einweg-verpflegt, Heinecken und Coca-Cola verschenken dazu Zehntausende von Gratisproben in der Dose.
Zweifel im Kopf: was bringt es, wenn die Stadt Freiburg sich verpflichtet, die Klimaneutralität von 2050 auf 2035 vorzuziehen (Grünen-Idee) oder eine Wasserstofftankstelle zu bauen (CDU)? Wenn gleichzeitig neun Millionen Menschen in der britischen Hauptstadt unfassbare Tonnen Müll erzeugen? Also fertigmachen zum Ändern: der Versuch, das nächste Ticket für einen Städtetrip im neuen Jahr mit der Bahn zu buchen, scheitert kläglich.
Im Reisebüro mit absoluter Bahn-Expertise heißt es, dass es im Januar um 410 Euro für einen Erwachsenen und zwei Kinder kosten würde. Es könne aber auch ein Sparpreis um die 60 Euro kommen, nur wisse keiner, wann. Es sind mit beiden Verkehrsmitteln sechseinhalb Stunden von Haustür zu Haustür, es ist einfach zu buchen per Easy-App, aber bei der Bahn steht dem unsicheren Preis noch ein Fahrplan- Wechsel entgegen, eine Art „Draußen nur Kännchen“ im Tourismus.
Richtig buchbar ist alles nur bis Dezember 2019. Klar können Billig-Airlines künftig für ihren Ausstoß zur Kasse gebeten werden – trotzdem schlecht, wenn die Alternative ein Staatskonzern ist, der so wenig bewirken will.
Die Bahn verschleiert anders als Easyjet ihre Auslandsschnäppchen, mühsam darf man sich tageweise voran klicken, es gibt eine bizarre „Höchstzahl an Anfragen“, nach der man die Online-Suche neu anfangen muss. Keine Metasuchmaschinen wie beim Flug- oder Hotelbuchen, die abseitigste Möglichkeiten in Sekunden zeigen.
Offenbar bestehe bei der Bahn kein Interesse, gefunden und gebucht zu werden, sagt ein zu Rate gezogener Digitalexperte Und a propos Auslandsreisen: Am Schalter der Bahn im Freiburger Hauptbahnhof ist es auch nicht möglich, ein Ticket ins 60 Kilometer entfernte Mulhouse zu buchen, online ist lediglich eine von drei Fahrten bepreist.
Die Reise führt ohnehin erst über Basel SBB. Warum soll irgendwer vor diesem Hintergrund mit der Bahn ins Elsass fahren? Klingt freudlos, es sind aber schlicht die Fragen, wie man Gutes tun soll, wenn es einem unmöglich gemacht wird.
Angst vor Greta
Immerhin können diese auch nur Menschen stellen, die sich bereits in ihrem Konsum hinterfragen. Das kann ein Schlüssel sein. Eigene Prioritäten prüfen, Verzicht im Alltag, mit gutem Vorbild vorangehen – das wird in diesen Tagen all jenen erleichtert, die Dinge bewusst tun.
Hin und wieder aber auch erschwert: Weil es Menschen gibt, die sich mit Auto-Aufklebern über ihrem Auspuff oder in den sozialen Medien an einer 16-jährigen Umweltschützerin abarbeiten – in ungeahnter Vulgarität zwischen Herrenwitz und Radikalenjargon.
Dazu gehört der permanente Fingerzeig auf andere: Wir selbst müssen nichts tun, solange es Dinge gibt wie … in China / jugendlicher Stromverbrauch / Kreuzfahrten / usw. Wer nicht weiter weiß, erfindet halt was: Der Wirtschaftsverband wvib/ Schwarzwald AG beispielsweise, dass die „Flugzeuge voll mit Schülern auf Wochenendtrips nach Barcelona“ seien. Was keiner Anschauung stand hält.
Obwohl der wvib auch richtigerweise behauptet, dass man raus müsse aus der Welt von Hubraum, PS und Doppelmoral. Es wird auch nicht ohne Einschränkungen gehen: Jeder kennt die dramatischen Kurven, die viele Statistiken seit den 1950er Jahren im Vergleich zu früheren Jahrhunderten drastisch ansteigen lassen.
Für die Temperatur wurde das mit der Form eines liegenden Hockeyschlägers verglichen, der nach oben rechts zeigt. Wir erleben so einen rapiden Anstieg aber bei allen Zahlen, die die große Beschleunigung in diesem 70 Jahres-Zeitraum bis heute zeigen: Bei der Weltbevölkerung insgesamt und der Bevölkerung in Städten, beim Reisen, beim Verbrauch von Energie, Wasser und Dünger, bei den Millionen von Fahrzeugen und dem Rückgang von Regenwald, Kulturland und Artenvielfalt – sie alle zeigen mehr oder weniger Linien, die nach oben explodieren.
Der Autor David Wallace-Wells („Die unbewohnbare Erde“) hat in diesen Tagen darauf hingewiesen, dass ein kommender UN-Report weit mehr Menschen als Opfer des Klimawandels sieht als bisher angenommen.
Und dass sich keiner, der fern von Küsten lebt, davor sicher fühlen kann: Die UN schätzen, dass bei der Erwärmung um zwei Grad Celsius nicht nur die Schäden durch Stürme und Meeresanstieg um das Hundertfache steigen werden.
Sondern auch 280 Millionen Menschen heimatlos werden. „Bis zum Jahr 2050 könnte es eine Milliarde Klimaflüchtlinge geben“, zitiert Wallace-Wells die UN. Vor diesem Hintergrund zweifelt auch er, ob individuelles Handeln überhaupt einen Sinn ergibt.
Und damit auch, ob der vielfach recycelte Joghurt-Deckel in Südbaden etwas erreichen kann. Weil letztlich die Politik sich neu erfinden muss, „wir bewegen uns nicht nur nicht schnell genug in die richtige, sondern nach wie vor in die falsche Richtung.“ Diesen Eindruck verstärkt das sogenannte „Klimapaket“ der Bundesregierung von Ende September.
Ein Ziel, wenig Hoffnung
Wenig steile These: Einmal mehr soll das Geld regeln, was man den heutigen Wählern nicht zumuten mag: 50 Milliarden Euro lässt sich die CDU/ CSU-SPD-Regierung Klimaschutzmaßnahmen allein bis 2023 kosten.
Und damit kauft sie nicht einmal Glaubwürdigkeit zurück: 2009 gab Angela Merkel bekannt, dass Deutschland bis 2050 seine Emissionen um 80 Prozent mindert, erreicht waren damals 24 Prozent.
Sechs Jahre später wollte sie bis 2050 schon 80 bis 95 Prozent einsparen, erreicht waren da 27 Prozent. Vor kurzem sollten es 100 Prozent sein, erreicht waren 32 Prozent. Lediglich am Ziel 2050 und an der Bekanntgabe immer höherer Prozent-Vorsätze hält sie fest.
Auf eine Art, dass einem der Umgang mit der Klimakrise im Kanzleramt surrealer vorkommt als die sehr realen Szenarien wütender junger (und alter) Menschen in der ganzen Welt. Investiert wird weiterhin in klimaschädliche Subventionen, die Bahn bekommt die Mehrwertsteuer gesenkt (was nicht zwingend an die Kunden weitergeleitet werden muss) und kann allein bis 2030 156 Milliarden Euro in die marode Infrastruktur stecken.
Dass auch ein paar Euro für bessere Buchungsmöglichkeiten und konkurrenzfähige Tickets abfallen, ist damit nicht sicher. Und wer Billigflüge mit ein paar Euro Aufpreis abstraft, hilft möglicherweise eher etablierten Airlines als dem Klima.
Am Stromerzeugen mit Kohle hält die Regierung dagegen bis 2038 fest, am Status des letzten europäischen Landes ohne Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen auch. Einen New Deal oder Marshallplan für die Umwelt müssen andere schaffen, wenn die Regierung dazu nicht in der Lage ist.
Neben den Konsumenten dann eben doch die Wirtschaft und die Kommunen, womit wir wieder in Südbaden sind: Wenn die hohe Eigenmotivation der Städte und Gemeinden hier etwas bringt, dann ist es eine Vorbildfunktion, die hoffentlich recht rasch auf große Metropolen übergreift – dass Freiburg die pro-Kopf-Emissionen von CO2 seit 1992 um 37 Prozent gesenkt hat, war kürzlich auch der „Financial Times“ einen Beitrag wert.
Weil die Stadt laut „FT“ als Labor für die Klimapolitik steht. So etwas hilft in einem positiven Wettstreit der Kommunen, auch in der Region. Die Stadt Offenburg hat kürzlich ein integriertes Mobilitätskonzept präsentiert, das nicht nur einzelne Programmpunkte bis Mitte 2020 listet, die mit ökologischer Fortbewegung zu tun haben.
Nachhaltige Kleidung schließt
Schund im Kühlschrank nicht aus.
Sondern auch einen Zusammenschluss von zehn Kommunen präsentiert, „weil Mobilität eben nicht an der Gemarkungsgrenze endet“, wie mitgeteilt wird. Auch ein Radschnellweg Strasbourg – Offenburg ist beabsichtigt. So werden aus Schritten von Einzelnen die Schritte von vielen. Unternehmen werden folgen – gerade die Region hier zeigt, dass es sich weit mehr lohnt, auf fortschrittliche Technologien zu setzen statt auf solche mit ablaufender Haltbarkeit.
Forschungseinrichtungen, Dienstradkonzepte, Umwelt-Startups, aber auch klassische Autohäuser, die sich zukunftsfähig aufstellen, können dazu beitragen. Diese Ausgabe zeigt an einigen Beispielen die Vereinbarkeit von Okölogie und Ökonomie und dass sie hier vorgelebt werden könnte. Für eine umweltbewusste Industrienation Deutschland, möglichst schon vor 2050.
Die Frage, ob es nun doch etwas bringt, wenn wir zuallererst uns fragen, ob die Dinge nachhaltig sind, die wir tun, lässt sich mit „ja“ beantworten. Wer das eigene Verhalten hinterfragt, mag hin und wieder zum Schluss kommen, dass er vielleicht gar nichts erreicht, um den Klimawandel aufzuhalten.
Trotzdem ist das Private die Voraussetzung dafür, dass mehr als 20.000 Menschen in Freiburg auf die Straße gegangen sind und den Systemwandel gefordert haben. Von der großen Politik, hoffentlich auch von ihrem näheren Umfeld.
Der alternative Sittenpolizist dürfte jedoch der Vergangenheit angehören. Jeder weiß von sich selbst, dass er längst nicht alles perfekt macht, die wenigsten dürften bio-regionale Veganer sein, die im Plusenergie-Mehrfamilienhaus leben.
Nachhaltige Kleidungs- oder Möbelstücke schließen Schund im Kühlschrank nicht aus. Kleine Empfehlung zum Schluss: Gerade weil die Zeit rennt, lohnt es sich den Dialog zu suchen – jeder hat den Kollegen, der noch vor kurzem räsoniert hat, warum er diesen Sommer beim Feierabend-Spaziergang kaum Bienen unter seinem Lieblingsnussbaum gesehen hat, sich aber zwei Wochen später einen Familienpanzer als Dienstauto rauslässt.
Wir alle verhalten uns widersprüchlich, wenn es darum geht, welches Wachstum wir herbeiführen und welches nicht. Am ehesten weisen einem das eigene Kinder nach, die durchaus als Umwelt-Vorreiter im heimischen Haushalt amtieren.
Tipp aus eigener Erfahrung: Die Lektüre von Titeln wie „Umweltliebe“ von Jennifer Sieglar (Moderatorin der Kindernachrichten „Logo“) verschafft Familien einen wertvollen wie unterhaltsamen Selbstversuch. Es gibt keinen Grund, warum man es nicht mal ausprobieren sollte, das mit der Weltverbesserung vor der Haustür.