Kampf gegen Corona kann auch die Digitalisierung Hilfe leisten. Man muss sie nur lassen. Über die Potenziale des digitalen Umgangs mit der Pandemie als Informationsproblem. Aus der Sicht eines Wirtschaftsinformatikers.
VON STEFAN STOLL
Krisen decken erbarmungslos auf, was funktioniert und was nicht. Sie schaffen neue Begriffe und Konzepte. In den vergangenen Monaten lernten wir, was systemrelevant ist: Pflegekräfte, Ärzte, Kassiererinnen und funktionierende Logistikketten zur Lebensmittelversorgung. Systemrelevante Bereiche müssen vom Herunterfahren der Wirtschaft ausgenommen werden.
Langfristig ist aber das gesamte Wirtschafts- und Kulturleben einer Volkswirtschaft systemrelevant. Egal ob Handel, Hotellerie, Gastronomie, Industrie, Kulturbetrieb oder Freiberufler. Sie alle schaffen mit ihrer Wertschöpfung jene Einnahmen, die unsere Sozial- und Gesundheitssysteme mitfinanzieren. Kurzfristig mag der Lockdown ein geeignetes Mittel sein, langfristig braucht es weitere, begleitende Strategien.
Die Systemrelevanz der Digitalisierung
Hier kommt die Digitalisierung ins Spiel. Funktionierende digitale Infrastrukturen, das haben wir gelernt, sind ebenfalls systemrelevant. Die neue Normalität heißt für viele heute: Homeoffice. Digitale Technologien laufen gut. Die Betroffenen im Homeoffice schlurfen manchmal noch etwas hinterher, holen aber auf. Zur Bekämpfung von Covid-19 sollte man unterschiedliche Perspektiven einnehmen. Die von Virologen und Epidemiologen sind besonders wichtig. Ich präsentiere hier die eines Wirtschaftsinformatikers.
Für mich stellt der Umgang mit dem Virus insbesondere ein Informationsproblem dar. Hätten wir zu jedem Zeitpunkt und an jedem Ort das Wissen darüber, wer infiziert ist, sähe unsere Welt anders aus. Stellen Sie sich bitte vor, Covid-19 würde die Nasen der Infizierten rot aufleuchten lassen, wie bei Rudolph dem Rentier. Und stellen Sie sich in dieser Analogie weiter vor, jeder Infizierte würde entlang seines Weges eine leuchtend rote Spur hinterlassen, die für einige Stunden sichtbar wäre. In diesem Fall könnten wir Infizierte ganz einfach erkennen und in Quarantäne schicken.
Der Rest der Bevölkerung aber könnte frei und sicher am sozialen Leben und am Wirtschaftsleben teilnehmen. Mit dem Wissen um die roten Nasen der Infizierten könnten wir aktive und der jeweiligen Situation angepasste Antworten geben. Die Vorstellung von Corona-Infizierten mit roten Nasen und roten Leuchtspuren dient hier als Bild dafür, dass die Digitalisierung auf der Datenebene eine Transparenz ermöglicht, die wir mit unseren Sinnesorganen so leider nicht erhalten.
Digitalisierung ist im Kern eine Dematerialisierung. Das klingt abstrakt, ist aber ganz konkret. Auf unseren Smartphones sehen wir jede Menge kleiner Softwareprogramme. Diese sogenannten Apps repräsentieren vielfach Dinge, die aus der realen Welt der Atome in die Welt des Digitalen gebracht und damit dematerialisiert wurden. Ein Fotoapparat, eine Videokamera oder auch Bahn- und Flugtickets, das trugen wir mit uns herum. Heute gibt es für alle diese physischen Dinge und für vieles mehr Apps.
Mit anderen Worten: Viele Gegenstände unserer realen Welt erhalten so einen digitalen Zwilling. Wir interagieren immer häufiger mit digitalen Zwillingen. Nach einer Online-Bestellung bietet der Logistikdienstleister eine Trace-and-Tracking-Funktion an, mit der man den Weg des Pakets online verfolgen kann. Verfolgt man wirklich das Paket? Jein. Man verfolgt vor allem seinen digitalen Zwilling, der aus einem Daten-Set in Form von Ort und Zeit besteht. Mit Hilfe von Sensoren, Vernetzung und Datengenerierung schafft die Digitalisierung somit eine feingranulare Sicht auf Dinge und Entwicklungen, die wir in der rein physischen Welt nicht hinbekommen.
Um die Logik der Digitalisierung zu verstehen, muss neben Dematerialisierung und digitalen Zwillingen ein weiteres Konzept angesprochen werden: Die Entbündelung. Wenn man Musik streamt, so ist diese vom eigentlichen physischen Träger, also der CD oder der Schallplatte, entbündelt.
Zunehmend werden auch Arztpraxen und Krankenhäuser entbündelt. Wer eine Smart-Watch trägt, kann seinen Puls und den Sauerstoffgehalt des Blutes messen oder ein EKG anfertigen, ohne eine Arztpraxis aufsuchen zu müssen. Auch physiologische Prozesse erhalten also einen digitalen Zwilling. Man wird sichtbar und mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz auch analysierbar.
Der digitale Zwilling für das Virus
Die Logik aus Dematerialisierung, Digitalem Zwilling und Entbündelung lässt sich nun auf Covid 19 anwenden. Auch das Virus sollte einen digitalen Zwilling erhalten, damit in der Analogie die Nasen der Infizierten rot leuchten.
Zum Beispiel durch Produkte wie den „Smart-Ring“ der Firma Oura, einem gesundheitstechnologischen Unternehmen aus Finnland. Der Ring überwacht Herzfrequenz, Körpertemperatur und Atemfrequenz. Wissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass sich mit Hilfe dieser Daten sowie durch deren Analyse mit Hilfe von KI Symptome wie Fieber, Husten und Atembeschwerden bis zu drei Tage vor dem tatsächlichem Auftreten vorhersagen lassen.
Hier besteht also die Möglichkeit einer Früherkennung potenzieller Covid 19-Infektionen. Schlägt der digitale Ring an, so könnten noch asymptomatische Personen gezielt untersucht werden. Im Falle eines positiven Ergebnisses wäre eine frühere Isolierung in Heimquarantäne möglich. Potenzielle weitere Infektionen könnten unterbunden und Behandlungen früher durchgeführt werden.
Die Herausforderungen, vor die uns Corona auch im neuen Jahr stellen wird, machen ein Set an unterschiedlichen Antworten notwendig. Durch die kreative Kombination bereits existierender digitaler Technologien lassen sich also zusätzliche Pfeiler in unsere Pandemie-Bekämpfungsstrategie einbauen. Und das ganz ohne leuchtend rote Nasen.
Stefan Stoll, 55, ist Professor und Studiengangsleiter für Wirtschaftsinformatik, Business Engineering, Digital Management und Innovationsmanagement an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg (DHBW) in Villingen-Schwenningen. Seit 20 Jahren begleitet der Freiburger mit dem „Institut für digitale Technologie und Innovation“ mittelständische Unternehmen auf ihrem Weg in die digitale Welt. Im Frühjahr 2021 erscheint sein Buch „Digitale Intelligenz – Das Betriebssystem für Digitale Revolutionäre“ (CoAutor Sebastian Dörr) im Springer Verlag.