Der Aktionskünstler Florian Mehnert aus dem Markgräflerland ist bekannt für seine Arbeiten zu digitalen Themen. In einem Fotoprojekt setzt er sich ganz haptisch mit Corona und den Folgen des Social Distancing auseinander.
VON DANIEL RUDA
Die vielleicht eindrücklichste Aufnahme ist die einer alten Frau. Sie steht ganz alleine da, hält ihren Gehstock mit beiden Händen fest, die Augen sind verschlossen. Umgeben ist sie von einer durchsichtigen Plastikhülle, einem großen PVC-Ball, in dem sie in trauriger Pose, die Augen geschlossen, dasteht. „Einsame Frau“ nennt Florian Mehnert das Bild aus seiner Fotoreihe „Social Distance Stacks“. Die sprichwörtliche Blase, in die einen die Pandemie mit den Kontaktbeschränkungen und Abstandsgeboten zwingt, kommt abstrakt und greifbar zugleich daher. Es ist erdrückend.
Menschen sind soziale Wesen und brauchen Begegnungen und Berührungen. „Wie sehr Menschen unter der sozialen Distanz leiden, das soll Thema dieses Projektes sein“, sagt der 50-Jährige Aktionskünstler aus Neuenburg, der das Fotoprojekt vor einigen Monaten gestartet hat.
Die Aufnahme der Frau ist dabei das reduzierteste Bild in der Reihe, die ansonsten die Absurdität dieser Pandemie mit aufwändigen Mitteln thematisiert. Da sieht man Balletttänzerinnen und Balletttänzer, die Paare aus Romeo und Julia oder Schwanensee darstellen, wie sie jeweils einzeln in aufgeblasenen PVC-Bällen stehen. In ihren Posen irgendwie nah beieinander und doch ganz weit voneinander entfernt. Ein Philharmonie-Orchester, die Mitglieder in ihren feinen Roben mit ihren Instrumenten in den Händen, aber um jeden Einzelnen herum diese undurchdringbare Hülle. Oder die poetisch wie bizarr daherkommende Alltagssituation in einem Hallenbad, wo die Besucher in ihren aufblas-baren Gefängnissen das Absurde greifbar machen, wenn da in einer Blase der Köpfer vom Beckenrand anvisiert oder durchs Wasser gekrault wird.
Washington Post und Guardian zeigen die Fotos
Vor ein paar Wochen machte die “Washington Post” eine Aufnahme aus der Ballett-Reihe zu einem der „Pictures of the week“, der Londoner “Guardian” tat das Gleiche. Die Fotoreihe verbreitete sich in vielen weiteren internationalen Medien, sogar im chinesischen Fernsehen sendete man einen Beitrag. „Das zeigt ja, dass diese Pandemie global ist und wir alle damit zu kämpfen haben“, sagt Mehnert.
Es ist nicht das erste Mal, das ein Projekt aus Mehnerts Neuenburger Atelier in der Öffentlichkeit die Runde macht. Bislang hingen seine Arbeiten oft mit der digitalen Welt zusammen. Einmal hackte er die Kameras von Smartphones und machte aus den anonymisierten Aufnahmen eine Installation, in „Freiheit 2.0“ nahm er sich des Themas Big Data und Datenschutz an, indem er unter anderem digitale Bewegungsprofile in analoger Form auf die Straßen von Weil am Rhein, Basel, Hunigue (Frankreich) und Stuttgart malte und mit einem ganzheitlichen Konzept die Geschäfte aus den jeweiligen Vierteln aktiv ins Kunstprojekt holte, die sich dafür temporär umbenannten. Wie weit es mit der Freiheit her ist in einer Zeit, in der Menschen ihre Daten mit Smartphone und Laptops größtenteils ohne Bedenken herschenken, solche Fragen wirft Mehnert mit seinen Aktionen auf.
Mit der Aktion „11 Tage“ sorgte er 2015 für Aufsehen, als er eine Ratte im Livestream in einer Kiste hielt, in der eine Waffe auf sie gerichtet war. Das übergeordnete Thema damals war die Überwachung und der Einsatz von ferngesteuerten Drohnen. Die Nutzer sollten abstimmen, ob die Ratte am Ende erschossen werden soll. Nach dem sechsten Tag löste er das provokante Projekt auf, um die Situation nicht eskalieren zu lassen. Ein Sturm des Hasses war im Netz auf ihn niedergeprasselt und die Polizei stand vor der Tür mit der Aufforderung, das Projekt zu beenden.
Für den künstlerischen Umgang mit der Corona-Pandemie beschloss der vielseitige Künstler bewusst, nicht in den digitalen Raum zu gehen, in dem sich plötzlich ohnehin alle befanden, weil die Kommunikation nur noch über Videokonferenzen möglich war. „Ich wollte das Thema ins Körperhafte bringen“, erzählt er am Telefon. Bei der Recherche für ein anderes Projekt stieß er auf die aufblasbaren PVC-Bälle. Mit diesen könne man Menschen auf dichtem Raum zusammenbringen, in dem jeder trotzdem in seiner eigenen Blase ist. „Das war das Bild, was ich gesucht habe“.
Mehnert organisierte in den vergangenen Monaten groß angelegte Shootings mit dem Ballett und den Philharmonikern im Stuttgarter Staatstheater sowie mit Darstellenden des Theaters in Freiburg, um Kunstschaffende ins Zentrum des Projektes zu stellen, und deren erzwungenen Stillstand zum Thema zu machen. Danach öffnete sich das fortlaufende Projekt thematisch immer mehr. Auch eine Aufnahme von verloren in ihren Blasen herumstehenden Jugendlichen gibt es.
Vom Social Distancing geht es inzwischen immer mehr ins Mental Distancing, sagt Mehnert, „weil neben der körperlichen Entfernung nach einem Jahr auch immer mehr eine geistige Entfernung zwischen den Menschen aufzieht.“ Mehnert will mit seinen Arbeiten eine Fläche zur Reflexion bieten.
Vom Social Distancing zum Mental Distancing
Dass zudem die Kommunikation gerade im digitalen Raum heute immer mehr in Blasen stattfindet, in denen es nur schwarz oder weiß gebe, auch das schwingt im Hintergrund der Bubble-Fotos mit.
Gerade plant Mehnert ein neues Projekt, das sich wieder einem digitalen Thema zuwendet. Im Staatsministerium in Stuttgart, in dem der Landesdatenschutzbeauftragte Stefan Brink – der für die Fotoreihe auch schon in einen PVC-Ball gestiegen ist – und die Mitarbeitenden zum Thema sitzen, will er eine große LED-Lichtinstallation umsetzen. Die soll Datenströme visualisieren, die sich in unterschiedlichen Farben von jedem Büro aus an Wänden und Decken entlang hin zu einem Lichtstrudel ziehen, in dem sich alles zusammenfügt. Im Sommer soll das Projekt „Data to Light“ fertig sein. Bis dahin könnte auch noch das ein oder andere Bubble-Foto erscheinen. Das Leben mit der Pandemie bleibt in jedem Fall bizarr. Es braucht Kunst wie jene von Mehnert, die das abbildet.
Dieser Artikel erschien zuerst in der netzwerk südbaden Printausgabe vom Mai 2021.