Wie sich im Mittelstand Innovation schaffen lässt, wenn altes Besitzstanddenken überwunden wird – Christen Merkle von der Gottenheimer AHP Merkle hat es herausgefunden.
VON RUDI RASCHKE
Aus dem Leben eines Mittelständlers: Aktuell finden bei ihm im Haus über 500 Tests pro Woche statt, sagt Christen Merkle, geschäftsführender Gesellschafter bei AHP Merkle in Gottenheim. Im vergangenen Herbst hat er für 25.000 Euro ein eigenes Gerät für PCR-Tests angeschafft. Seit Pandemiebeginn gab es nur eine Handvoll an Fällen, vor kurzem hat er aber sicherheitshalber eine Frühschicht heimgeschickt – der einzige Fall in 15 Monaten Pandemie, wo es AHP Hydraulikzylinder einmal freitags nicht in den Versand nach China geschafft haben. Deutsche Effizienz findet derzeit eher in Gemeinden wie hier am Tuniberg statt als in Berlin.
Für ein südbadisches Muster-Unternehmen wie AHP, einst von Christen Merkles Vater Gerhard in zwei Garagen gegründet und heute auf rund 250 Mitarbeiter gewachsen, sind die Zeiten komplexer geworden. Der sechsfache Familienvater Merkle, der nie lautstark oder wie ein Industrieller auftritt, sagt süffisant, dass sich Mittelstand für ihn schon anfühle, eine Art „Zahlmeister der Nation“ zu sein. Mit einem Image, das zwischen niedlichem Kleinunternehmer und Kapitalistenkarikatur mit Zigarre angesiedelt ist.
„Der Mittelstand trägt uns…“ sei so ein Satz. Christen Merkle betont, dass man zwar gern gute Stimmung im Land verbreiten dürfe, aber außer Kurzarbeiter-Geld nicht viel zurückkommt. Er hätte sich auch einmal ein aufrichtiges „Danke“ von der Kanzlerin gewünscht. Immerhin seien die vielen mittelständischen Unternehmen seit Monaten im „Überlebensmodus“.
Corona und die Autoindustrie
Schon vor dem weltweiten Ausbruch des Virus’ habe es eine leichte Rezession in der Automobil-Industrie gegeben, sagt Merkle. Die Elektro-Thematik sei damals zu zurückhaltend angegangen worden, in der Folge ging die Auftragslage im für ihn wichtigen Formenbau der Zulieferer zurück. Das Jahr 2019 schloss AHP Merkle erstmals mit einem leichten Verlust, dennoch investierte man in Gottenheim in ein zweites Werk, organisierte sich neu, glaubte an Innovation und neue Produkte. „Wir hatten viele Baustellen“ sagt Merkle über das Vor-Corona-Jahr
Ab Januar 2020, als China den Ausbruch bestätigte, liefen die Geschäfte bis in den April okay, sagt Merkle. Dass danach die komplette Autoindustrie wochenlang stillgestanden sei, hätte er sich zuvor nicht vorstellen können. Auch nicht, dass sein Unternehmen in knapp fünf Jahrzehnten Firmengeschichte das erste Mal Kurzarbeit anmelden musste. Manche seiner Wettbewerber reduzierten in dieser Situation ihre Preise drastisch, sagt Merkle, er selbst konnte staatliche Corona-Hilfe nicht in Anspruch nehmen, weil das Vorjahr keinen Gewinn auswies. „Dass wir in den zehn Jahren davor den Umsatz mehr als verdoppelt haben, hat keinen mehr interessiert“, sagt er.
Umdenken beim Immobilienbesitz
In dieser Zeit habe er den Rat eines erfahrenen Beraters aus der Ortenau in Anspruch genommen, über das Veräußern einzelner Immobilien samt Grundstück zumindest nachzudenken. Für einen Mittelständler zweiter Generation, dessen Familienname Teil des Firmenlogos ist, kein ganz naheliegender Schritt. Merkle ist ihn trotzdem gegangen: „Weil wir oft machen, was andere nicht machen.“ Und weil er an seinen Vater Gerhard denken musste, der 2017 verstarb. Merkles Umdenken begann mit einer Erkenntnis aus der Zeit nach dem Abschied vom Firmengründer: „Er konnte die Hütte nicht nach oben mitnehmen“, sagt er heute gelassen, wenn die Rede auf seinen Besitz kommt. Was geschah dann konkret? Aus den Gesprächen mit dem Berater ergab sich der Kontakt zu Matthias Sasse, dessen Unternehmen MSI Gewerbeimmobilien und Grundstücke vermittelt. Neuerdings auch im Modus „sale and lease back“, also verkaufen und zurück mieten. Mit Hilfe von Sasse fand Merkle einen auf Nachhaltigkeit ausgelegten Fonds, der das bereits über zehn Jahre hinweg getilgte Gebäude samt Grundstück übernahm. AHP Merkle wurde so relativ geräuschlos, aber zu deutlich besseren Konditionen Mieter im eigenen Gebäude, das neu errichtete Werk II bleibt im Eigentum des Unternehmens.
„Wir machen oft das, was andere nicht machen.“
Christen Merkle, AHP Merkle in Gottenheim
Mieten statt tilgen
Im Zuge des Vertrags hat Merkle sich nicht nur ein langes Mietrecht, sondern auch ein Rückkaufsrecht eintragen lassen, die Wartungen am Gebäude nimmt er unkompliziert selbst vor und profitiert dafür von einem höheren Verkaufspreis. Anders als bei „normalen Investoren“ (Merkle) finde kein Reinreden seitens des Vermieters statt. Merkle legt gegenüber Belegschaft und Öffentlichkeit Wert darauf, dass er dieses Geschäft gemacht hat, um alles wieder ins Unternehmen zu investieren, nicht zur privaten Reichtumsmehrung. „Es bleibt alles in der Firma“, sagt er beim Gespräch, er habe sich aber von einer Last befreit. Um für das formschöne Gebäude in Gottenheim noch einmal das schlichte Wort „Hütte“ zu verwenden: „Schmeiß die Hütte aus der Bilanz“, lautet die bewusst flapsig-furchtlose Einladung für Sasses „sale and lease back“ in dessen Eigenwerbung. Matthias Sasse sagt, dass es in Deutschland noch eine vergleichsweise hohe Quote beim Eigentum im Unternehmensbesitz gebe, im Ausland sei es selbstverständlicher, eine Immobilie auszulagern. Entsprechend habe es eine intensive Aufbereitung aller Gebäudeaspekte in einem sogenannten „Datenraum“ gebraucht, um es letztlich gezielt auf den Markt zu bringen – drei potenzielle Käufer haben sich schließlich in Gottenheim umgeschaut, von denen einer zugriff. Dabei spielten sowohl eine potenzielle Nachnutzung vergleichbarer Industrie[1]betriebe, aber auch eine branchenferne Nutzung eine Rolle.
Das Produkt wichtiger als das Gebäude nehmen
Mit einer eingehenden Prüfung, „auf Herz und Nieren“ oder auch „Due Dilligence“ sei das ganze Verfahren in einem halben Jahr zum Abschluss gebracht worden, sagt Sasse. Für Christen Merkle war dies eine Erfahrung, die ihm den real existieren[1]den Unterschied zwischen dem Wert in der Bilanz, der tatsächlichen Bewertung der Banken und einem deutlich höheren Kaufpreis vor Augen führte. Er sei „mit Sicherheit nicht reich geworden, sondern weniger arm“ sagt er lachend über die Beseitigung seiner Bank-Verbindlichkeiten. Alles in allem habe er die Frage für sich beantwortet, was wirklich wichtiger ist: Das Produkt seines Unternehmens – oder das Firmengebäude. Zu seinem Selbstverständnis als stolzer Mittelständler gehöre jedenfalls kein „meine Halle, mein Auto, mein Boot“. Auf diese Weise hat er sich die Innovationsfähigkeit für neue Produktentwicklungen zurück erobert. Und die Entscheidungshoheit darüber. Sein Fazit: „Die Zukunft geht vor.“