Arbeit und Freizeit sind nicht mehr klar getrennt: Zu lange Arbeitszeiten, der pausenlose Blick aufs Display und die ständige Erreichbarkeit – auch nach Feierabend, am Wochenende und im Urlaub. Im Grüntal bei Freudenstadt bieten Karin und Andreas Harr eine internet- und technikfreie Ruhezone zum Runterfahren an
VON CHRISTINE WEIS
Der rostige Esel weist den Weg. Ein Schild „Hier geht’s lang“ lässt am Ziel keinen Zweifel mehr. Schweine suhlen sich im Dreck, Hühner scharren im Gehege, Esel, Kamerunschafe und Ziegen grasen auf den Matten. Ein paar Meter weiter öffnet sich ein Garten mit alten Eichen, Birnbaum, hölzernen Liegeschaukeln, Saunawagen, Backhaus, Badebottich, Außendusche und Rosen-Pavillon. Die Natur ist üppig, der Komfort – auf den ersten Blick – bescheiden. In einem Mini-Holzhaus mit Stube, Küche und Schlafzimmer unterm Dach können zwei Personen übernachten. Es gibt kein WLAN, dafür eine stilvoll gepflegte Gartenoase.
Hier kann man leben wie vor hundert Jahren – ohne Laptop, Milchaufschäumer und Zentralheizung. Auf Kühlschrank und Toilettenspülung muss dennoch keiner verzichten. Luxus dieser Bescheidenheit ist Erholung pur, wie die positiven Kommentare im Gästebuch bestätigen.
„Wenn die Menschen erstmal aus dem Hamsterrad fallen, fangen sie an, sich über die wesentlichen Dinge des Lebens Gedanken zu machen. Ohne Handy oder andere Medien gibt es Freiraum im Kopf.“
Andreas Harr
Alltägliches braucht hier Zeit, und trotzdem empfinden die Kurzurlauber ein Wochenende als ausgiebigen Urlaub: Für eine Tasse Kaffee muss erstmal Feuer gemacht werden. „Viele wissen gar nicht mehr, wie man auf einem Holzherd kocht“, sagt Karin Harr.
Gut Ding will Weile haben
Zweieinhalb Stunden bollert der Badeofen, bis das heiße Wasser für ein Vollbad im Zuber reicht. Der Saunaofen braucht nicht ganz so lange zum Aufheizen. Von der Schwitzbank aus lassen sich Ziegen beobachten. „Ziegen-TV“ nennen die Harrs ihre Alternative zu Netflix und Co. „Wir haben Gäste, die verweilen nur im Garten, obwohl sie Ausflüge planten. Weil sie nichts von der Entschleunigung hier verpassen wollen“, erzählt Karin Harr.
Sein Backhaus baute das Ehepaar Harr in Eigenarbeit. Seit 2017 vermieten sie es. Die Idee „Altes Backhaus Grüntal – märchenhaftes Landleben“ hatte Karin Harr bei einem Seminar des Landfrauen Bildungswerkes. Durch das EU-Förderprogramm für innovative Maßnahmen für Frauen im Ländlichen Raum konnte sie das Projekt realisieren. Das Backhaus ist ein Nebeneinkommen der Harrs. Es gibt noch einen Malerbetrieb, und sie bieten regelmäßig geführte Esel-Wanderungen für Gruppen an.
Ihr Arbeitsalltag scheint übervoll, dennoch wirken sie entspannt. „Wir wollen nicht etwas bieten, was wir dann selbst brauchen“, sagt die 55-Jährige. Selbstfürsorge sei für sie wichtig, das wollen sie auch den Gästen vermitteln, die meist für einen Kurzurlaub aus dem Umkreis von rund 200 Kilometern anreisen. Es kann schon mal vorkommen, dass die beiden Mittfünfziger sich selbst in ihr Feriendomizil zurückziehen.
Zu dem Konzept des einfachen Lebens gehören biologisch und regional erzeugte Lebensmittel. Eier kommen von den eigenen Hühnern. Marmelade und Wurst stellen sie selbst her. Die übrigen Lebensmittel, mit denen der Kühlschrank des Backhauses gefüllt wird, beziehen sie von Hofläden aus der Region. „Man kann nicht nachhaltig und naturnah leben, wenn man Fertigprodukte aus dem Supermarkt konsumiert“, findet Andreas Harr, „ich verwende bewusst auch für meine Malerarbeit naturbelassene Materialien wie Kalk, Lehmputze oder mineralische Wandfarben“.
Viele machen sich zum Sklaven ihrer Firma
Laut Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) klagt etwa die Hälfte aller Beschäftigten über allgemeine Müdigkeit, Mattigkeit und Erschöpfung. In einer repräsentativen Umfrage des BAuA gaben nur 56 Prozent der Befragten an, mit ihrer Work-Life-Balance zufrieden zu sein (Datenstand 2016, veröffentlicht 2020). Alarmierend sind auch die Zahlen der Weltgesundheitsorganisation WHO zum Thema Arbeitszeit, die im Mai diesen Jahres veröffentlicht wurden: Fast jede zehnte Arbeitskraft weltweit arbeitet 55 Stunden pro Woche oder mehr.
Der Epidemiologe Frank Pega von der WHO in Genf belegt in der Studie, dass 2016 rund 745.000 Menschen an Herz-Kreislauf-Erkrankungen verstarben, weil sie lange Arbeitszeiten hatten. Homeoffice verschärfe das Problem. Die Arbeit zieht quasi zu Hause mit ein und sitzt am Küchentisch. Pausenlose Erreichbarkeit durch digitale Medien verwischt die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit zudem. Der Dauereinsatz verursacht Hektik und lässt Kräfte schwinden.
Andreas Harr kennt das Arbeitspensum von Unternehmern, Managern und Handwerkern. Die in seiner Branche übliche Arbeit am Samstag hat er eingestellt und am Sonntag ist Ruhetag. Zeit ist ein wertvolles Gut, mit dem man sorgsam sein müsse. Bei seinen Wanderungen merkt er immer wieder, wie unruhig und beladen viele Menschen sind. Er drängt keinen zum Gespräch, meist erzählen die Menschen von sich aus, was sie beschäftigt. Die Pandemie hat die Nachfrage nach therapeutischen Wanderungen erhöht.
Wobei Corona nicht das eigentliche Thema sei, sondern eher der Auslöser für Angst und Stress. Die Belastung im Job kann ein Grund sein. „Viele machen sich zum Sklaven ihrer Firma“, sagt Harr. Das Verfolgen von immer neu gesteckten Zielen und die Jagd nach Erfolg und Anerkennung koste viel Kraft – die können die Gäste im Grüntal auftanken, indem sie abschalten.