Der Landgasthof steht trotz seiner Beliebtheit vorm Aussterben. Zu groß sind die Mühen rund um die Themen Personal, Arbeitszeiten, Generationennachfolge. Das besondere Wirtschaften an einem Beispiel im Markgräflerland: Der Hirschen in Britzingen.
VON RUDI RASCHKE
Was fasziniert uns im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts immer noch so am Traditionsgasthaus? Der Selbsttest geht so: Platz nehmen in einer warmen Stube, die Karte zur Hand nehmen – und schwelgen. Im Idealfall gibt es in diesen Tagen eine angemessene Auswahl an Klassikern, gern auch Saisonales wie Schlachtplatte oder Gans. Keine übertriebene Liste an Gerichten, die gar nicht frisch zuzubereiten wären, sondern ein übersichtlicher Rahmen. Wer sich bei der Bestellung kaum entscheiden kann, ist hier grundsätzlich gut aufgehoben.
Das gilt bei ausgewählten Häusern in der Ortenau wie im Breisgau, im Kaiserstuhl, Südschwarzwald, Dreisamtal oder dem einen oder anderen Freiburger Ortsteil. Viele gibt es nicht mehr, wenn es um die Qualität der Küche geht. Martin Schumacher ist einer jener Wirte, die für all jene stehen, die Einfaches mit viel Aufwand gut machen. Die die Mühe einer öfter wechselnden Karte auf sich nehmen, die nahezu alles selbst zubereiten. Und die an fast jedem Öffnungstag mittags und abends ausgebucht sind. Weil das Gute so selten geworden ist.
Ein Besuch nach der Mittagsschicht an einem Montagmittag, eben sind die letzten Gäste gegangen. Die Anreise ins bei Sulzburg gelegene Britzingen glich der Kamerafahrt durch eine wie fürs ZDF gebaute Herbstlandschaft. Ein glanzvoll blauer Himmel liegt überm eisernen Wirtshausschild.
Als Mittagsmenü gab es im Hirschen an diesem Tag Schweinehalsbraten mit Burgunderjus, Rotkraut, dazu Semmelknödel. Die Vorspeise eine Kürbissuppe, wie man sie zuhause eben nicht hinbekommt, als Dessert Topfenmousse. Wir setzen uns an den runden Tisch in einem Nebenraum mit klassischem Kachelofen, Martin Schumacher nimmt Platz und erzählt.
„Wir ändern uns jeden Tag“, sagt er zur Karte, die er jeden Morgen neu schreibt. Manche Stammgäste nehmen den Mittagstisch hier täglich, deshalb könne er gar keine fixe Wochenkarte anbieten. Sein Tagesablauf? Um 7 Uhr ist er wie jeden Morgen in die Küche gekommen, sein Tag beginnt immer mit einem Tee, danach nimmt er hier im Nebenraum zur Zeitung einen Kaffee, ehe er wie jeden Tag eine Brühe ansetzt, vom Rind oder Huhn.
Bis 10.30 Uhr steht das Menü für den Tag fest, dann beginnt die Arbeit an den einzelnen Gerichten. Der 50 Jahre alte Schumacher hat klassisch Kochen gelernt, im benachbarten Ochsen in Müllheim-Feldberg, war dann kurz auf Wanderschaft und kam um das Jahr 2000 wieder in den Familienbetrieb zurück. Heute führt er ihn in vierter Generation, vor acht Wochen ist die Mutter verstorben, die bis zuletzt im Betrieb mit dabei war.
Dass er um 7 Uhr die Arbeit aufnimmt, ist die Ausnahme nach dem Herbsten, sagt Schumacher, für gewöhnlich steht er um 5 Uhr morgens bereits in den eigenen Reben. Ein paar Schweine hat die Familie ebenfalls noch, freie Tage werden hin und wieder mit der Schlachtung oder in den Rebbergen verbracht.
Ein Pensum, das für Normal-Arbeitnehmer schier unmenschlich sein dürfte, Schumacher nimmt es für seine Gäste auf sich. In der Stadt wäre das gelebte Soziokultur: Das ständige Zusammenspiel von Leben und Arbeit am selben Ort. Mit seiner Ehefrau Simone, die mit ihm in der Küche arbeitet, ist er jeden Tag von früh bis spät zusammen, die Familie lebt mit dem zehn Jahre alten Sohn im Gasthaus.
Schumacher lässt sich nicht nervös machen, auch wenn 50 Gäste gleichzeitig verschiedene Gerichte bestellen. Sein Leben kennt nur wenig Pausen, trotzdem ist er die Ruhe in Person. Dazu gehört auch Verzicht: Er habe kein Handy, sagt er, das Internet nutzt er nicht. Wenn er nach Mitternacht ins Bett geht, könne er gut abschalten, wenn es auch nur wenige Stunden sind.
Ein weiterer Verzicht aber kommt seinen Gästen zugute: Anders als andere Köche besitze er keinen Kombidämpfer, sagt Schumacher. Das Gerät verspricht vor allem halbautomatisches Warmmachen im Dampf, für Convenience-Köche nicht unwichtig.
Er lässt dagegen vollständig die Finger weg von den Verlockungen der Fertigzubereitungen im Großmarkt, wo es praktisch alles gibt. Natürlich könnte er Fertigteige kaufen – „aber sind das handgemachte Knödel, wenn ich sie nur noch selbst rollen muss?“, fragt er. „Ich bringe es nicht übers Herz“. Stattdessen schält er pro Woche rund 75 bis 100 Kilogramm Kartoffeln selbst.
“Herzlichen Dank für das beste Kotelett seit Jahren.”
Gästebucheintrag von Vincent Klink im Hirschen
Das ist weit mehr als liebenswert altmodisch, es ist tiefe Demut vor dem Kochberuf, den Schumacher auch mit Fertigkeiten wie dem Ausbeinen von Wild verbindet. Vieles, wo er ansetzt, bei den Brühen beispielsweise, scheint außerhalb der Sterneküche ausgestorben. Der großartige Stuttgarter Sternekoch und Gastrosoph Vincent Klink („Wielandshöhe“) hat eine handschriftliche Nachricht hinterlassen, die gerahmt hinter Schumacher hängt, „mit herzlichem Dank für das beste Kotelett seit Jahren.“
Stilsicher und handwerklich geradlinig ist die Küche im Hirschen, sie ist standfest wie das jahrhundertealte Haus, in dem sie sich befindet. Aber das heißt eben nicht, dass Veränderungen von ihr fern gehalten wurden. Als er die Chefrolle im Hirschen vom Vater übernommen hat, hat er die Küche erweitert, aber auch einzelne Gerichte besser machen wollen, die Salate beispielsweise. Sie sind heute mit einer klassischen Vinaigrette nach Großmutter-Art angerichtet.
Schumachers Rat an andere ist, dass „lass alles so, wie es ist“ kein guter Ratschlag sei. Und nach kleineren Veränderungen über die Jahre sei die Corona-Zeit doch etwas gewesen, was ihn noch mehr zum Nachdenken gebracht hätte. Damals hätten sie im Hirschen für viele Gäste Essen zum Mitnehmen gemacht, „aber das war halt keine Wirtschaft“. Diese Zeit habe gezeigt, „was passiert, wenn wir Gasthäuser einmal nicht mehr da sind.“
Schumacher jammert nicht, wenn es um die klassischen Themen geht, die es dem feinen Wirtshaus auf dem Land schwer machen. Er weiß allerdings auch nicht, ob er es dem eigenen Sohn uneingeschränkt empfehlen mag, in fünfter Generation das Restaurant zu übernehmen. Weil es das, wie er es macht, ja eigentlich heute schon fast nicht mehr gibt. Trotzdem sagt er, dass es ihn mit Zufriedenheit erfüllt: „Etwas Einfaches gern machen“.