Wie blickt der regionale Energiemarkt auf das schwierige Jahr 2021 zurück, wie sieht die eigene Strategie eines binationalen Unternehmens aus, wie schaut es auf die politischen Pläne der Zukunft? Ein Gespräch mit Jörg Reichert, Vorsitzender der Geschäftsleitung des deutsch-schweizerischen Unternehmens Energiedienst.
INTERVIEW: RUDI RASCHKE
Herr Reichert, wie war das Jahr 2021 für Sie – in einem ohnehin sehr wechselhaften Markt und unter den Pandemie-Bedingungen?
Persönlich war es ein spannendes Jahr mit vielen Veränderungen. Corona hat uns alle getroffen und uns auch in der Firma vor Herausforderungen gestellt. Was das Thema Energiewende und auch Verkehrswende angeht, hat uns die neue Bundesregierung noch einmal einen neuen Fahrplan diktiert. Und natürlich haben wir eine außergewöhnliche Situation an den Energiemärkten, wo historische Levels bei den Preisen für Gas und Strom erreicht wurden. Wir sind aber zuversichtlich, dass wir unsere Ziele trotz der extremen Ausschläge an den Energiemärkten erreichen.
Es bleibt ein sprunghaftes Geschäft?
Unser Geschäft und unsere Strategie basieren auf drei Säulen: den kundennahen Energielösungen, also dem Kundengeschäft, zu dem der Vertrieb, auch mit Photovoltaik E-Mobilität zählen, dann die systemrelevante Infrastruktur mit dem systemkritischen Netzgeschäft und die erneuerbare Erzeugungs-Infrastruktur. Wir sehen Wachstum in allen drei Feldern und mit diesem Portfolio eine positive Gesamtentwicklung in den kommenden Jahren.
Sie haben mit Ihrer „Strategie 2030“ eine langfristige Konzeption gestaltet. Seit zwei Jahren sind Sie in der jetzigen Position als Vorsitzender der Geschäftsleitung, hilft es Ihnen, dass Sie das Unternehmen aus Ihrer EnBW-Zeit seit über 15 Jahren kennen?
Ich kenne die Energiebranche seit 15 Jahren und war lange bei der EnBW, hatte aber wenig operative Berührungspunkte mit Energiedienst. Den Einblick in die Organisation habe ich mir hier erarbeitet. Es ist ein anderes kulturelles Umfeld, mit der Binationalität sind auch viele neue Themen hinzugekommen.
Würden Sie sagen, dass Energiedienst heute klarer aufgestellt ist als zu Ihrem Antritt?
Neben der 2030-Konzeption gehört auch die Reduzierung von drei auf zwei Geschäftsführer dazu. Das ist ein sehr stabiles Konstrukt. Mein Kollege Michel Schwery ist Schweizer, ich bin Deutscher, er ist Ingenieur, ich bin Kaufmann, wir ergänzen uns sehr gut. Wir arbeiten sehr intensiv an der Umsetzung der Strategie.
Wie sieht dies aus?
Wir haben unsere Strategie noch einmal nachgeschärft. Zuvor hat man im Unternehmen ein wenig in Alt- und Neu-Geschäft gedacht. Das gibt es eigentlich nicht mehr, wir brauchen einen integrierten Blick auf Energielösungen, um die Herausforderungen der Energiewende bewältigen zu können.
Sehen Sie sich damit auch regional gut aufgestellt?
Es gibt ja durchaus einen Kampf um die Versorgung der Gemeinden, den sie auch mit der Badenova austragen. Wir sind ein nachhaltiges Unternehmen, das stark in der Region verwurzelt ist. Mit unserer Strategie, deren Dach unsere eigene Klimaneutralität ist, sehen wir uns gut gerüstet, um die Gemeinden in Südbaden bei ihren eigenen Klimaschutzzielen optimal zu unterstützen.
Mit unserer kommunalen Verankerung können wir die Herausforderungen, die die Energiewende zum Beispiel für das Verteilnetz bedeutet, stemmen. Wir machen das Netz fit, etwa für den weiteren Ausbau der Photovoltaik und für die Elektromobilität. Es gibt zwar einen harten Wettbewerb, aber nur mit vereinten Kräften werden wir die mit der Energiewende einhergehenden Aufgaben für die Gesellschaft meistern.
Wie stellt sich aktuell die Binationalität für Sie dar?
In der Kultur und Mentalität der Region wird sie unverändert gelebt, in der Wirtschaft dürfte es zwischen EU- und nicht-EU-Ländern schwieriger geworden sein. Unsere rund 1000 Mitarbeitenden teilen sich zu zwei Dritteln und einem Drittel auf Deutschland und die Schweiz auf. Wir haben sehr viele gemischte Teams, bei denen sich allein Wohn- und Arbeitsort auf unterschiedlichste Weise mischen. Von daher wird es gelebt, dass wir Brückenbauer sind und ein gutes Miteinander haben. Das ist mir wichtig, aber auch, dass beide Seiten voneinander lernen, was der andere gut kann.
Zum Beispiel?
Dass die Schweizer etwas pragmatischer an Dinge herangehen als wir Deutsche es gewohnt sind. Das hat sich auch in der Pandemie gezeigt. Und energiewirtschaftlich ist die Schweiz mitten in Europa, auch wenn das Rahmenabkommen (die europäische Regelung zu Energienetzen, Anm. d.Red.) nicht zustande gekommen ist. Wir als Unternehmen hoffen, dass wir uns hier wieder annähern.
Wann haben Sie sich das letzte Mal richtig über die Schweiz geärgert?
Geärgert nicht, aber ich hätte mich gefreut, wenn wir beim Rahmenabkommen einen Weg der Annäherung gefunden hätten. Hier war der Drang der Schweiz, eigene Wege zu finden, ausgeprägter.
Wie oft fällt bei Ihnen im Unternehmen zwischen deutscher und Schweizer Seite noch der Satz „Ja, das ist bei uns anders“?
Der fällt so gut wie nie. Vielfalt ist Teil unserer Unternehmenskultur und auch eine Stärke der Energiedienstgruppe.
Und wie sieht der konkrete deutsch-schweizerische Arbeitsalltag zweier Geschäftsführer aus?
Wir sind geografisch getrennt, Michel Schwery hat seinen Arbeitsschwerpunkt im Süden der Schweiz, im Wallis, ich am Hochrhein, wir sehen uns aber jede Woche mindestens einmal. Wir entscheiden gemeinsam, über die Geschäftsleitungssitzung, aber auch im Managementteam, das zur Hälfte aus Schweizern und Deutschen besteht.
Hat die Pandemie eine große Veränderung der Arbeitssituation gebracht?
Ja. Wir sind ohnehin ein dezentrales Unternehmen, wir haben sehr viele Standorte in beiden Ländern. Der Druck auf die Digitalisierung durch Corona hat uns nach vorne gebracht: Wir haben in den vergangenen zwei Jahren einen Quantensprung genommen, was die Flexibilisierung unserer Zusammenarbeit angeht.
Und der ist nach der Pandemie nicht wieder umkehrbar?
Nein. Wir haben einen Schwerpunkt „neue Arbeitswelten“ für die Zeit danach ins Leben gerufen. Am Ende des Tages wollen wir eine gesunde Mischung aus präsentem und mobilem Arbeiten haben, die auch den persönlichen Austausch beinhaltet.
Was wird in diesem Arbeitsbereich gerade skizziert?
Innerhalb unserer Strategie haben wir zehn Zukunftsthemen definiert, eines davon sind die neuen Arbeitswelten. Jedes dieser zehn Themen hat einen eigenen Programmmanager, der nicht die jeweilige Führungskraft sein muss. Bei den neuen Arbeitswelten spielen IT-Voraussetzungen, aber auch Büroräumlichkeiten eine Rolle, die Strukturen und wie ich darin physisches und virtuelles Arbeiten kombinieren kann. Aber auch die Ansprüche der Mitarbeitenden nehmen wir auf. Das führen wir zusammen.
Sie bauen gerade in Donaueschingen neu, sind hier bereits neue Arbeitswelten zu sehen?
Wir wollen dort in diese neuen Welten eintauchen, auch am Hauptstandort in Laufenburg wird es in diesem Jahr ein Pilotprojekt geben. Donaueschingen soll aber auch in Sachen Energiestandards und Mobilität der Mitarbeitenden ein Referenzstandort werden.
Auch als Arbeitgebermarke?
Ja. Und auch für die Stadtentwicklung. Wir ziehen aus der Stadtmitte ins Industriegebiet. Aus der alten Fläche wollen wir uns nicht einfach verabschieden, sondern denken auch über ein gemeinsames Projekt mit einem Altersheim in der Nachbarschaft nach. Für uns ist es selbstverständlich, dass wir als nachhaltiges Unternehmen einen Beitrag zur Gesellschaft leisten. Aber natürlich fühlen wir uns mit unserer positiven, wertebasierten Unternehmenskultur auch nach innen gut aufgestellt und wollen attraktiv bleiben.
Ihre eigene Vita sieht gleich drei frühere Tätigkeiten im Risikomanagement vor. Wie hat man sich das vorzustellen, gerade mit Blick auf Innovationsthemen?
Bei der EnBW war es das Risikomanagement, das eigentlich auch ein Chancenmanagement war, auch wenn das nicht immer in der Natur des Menschen liegt. Wir sind in einem Markt tätig, der immer wieder Dinge bereithält, die nicht vorauszusehen sind, denken Sie an die aktuelle Strompreisentwicklung. Das Thema, lernbereit und offen zu bleiben, ist für mich deshalb das Wichtigste. Nicht in alten Glaubenssätzen zu verharren, aber sich auch mit möglichen Szenarien auseinanderzusetzen. Für mich ist das gerade heute der Schlüssel, wenn sie an jüngste Insolvenzen denken. Auch Unternehmen in der Strom- und Gasbeschaffung waren davon betroffen.
Erforschen Sie als Traditionsunternehmen auch jene Horizonte, die heute noch gar nicht absehbar sind für künftige Umsätze?
Ich würde hier zwei Beispiele nennen: Unser Reallabor „H2-Wyhlen“ rund um den Wasserstoff ist heute ein Leuchtturmprojekt und ein absolutes Lernfeld, wie die Energiewende im Verkehr und in der Industrie gelingen kann. Ein zweites: Mit Evonik haben wir in Rheinfelden den Energy Efficiency Award, einen bundesweiten Preis der Deutschen Energieagentur gewonnen. Dort geht es um die Nutzung von Abwärme für die Wärmeversorgung und darum, dass es eine Kooperation zwischen Kommune, Industrie und Energieversorgern braucht. Wir haben eine Lösung gefunden, wie Abwärme zum Heizen genutzt oder verstromt werden kann, ohne dass sie weiter in den Rhein geht.
Zum Thema Wasserstoff: Aktuell scheinen alle sehr E-Auto-fixiert. Schafft es der Wasserstoff hier noch auf die Überholspur, wie lautet Ihre Prognose?
Ohne Wasserstoff wird es nicht gehen, auch wenn das Thema in der Autobranche aus meiner Sicht eher erledigt ist. Wir sehen in der Schweiz, dass Wasserstoff als LKW-Antrieb eine Lösung sein kann, im PKW-Bereich ist er derzeit kein Thema mehr. Generell ist der Wirkungsgrad eines Brennstoffzellenfahrzeugs geringer als der eines Elektrofahrzeugs, da die Kilowattstunde Strom gleich in den Antrieb fließt und nicht den Umweg über die Wasserstofferzeugung machen muss. Im Schwerlastbereich, also bei LKW, Bussen oder Zügen sehen wir durchaus Möglichkeiten.
Wie blicken Sie auf die neue Regierung, was Energiethemen angeht?
Positiv. Wenn wir Klimaschutz ernst nehmen, haben wir jetzt ein höheres Ambitionsniveau, was die Zielrichtung angeht. Wichtig für uns als Unternehmen ist, dass wir in die Umsetzung kommen, also eine höhere Akzeptanz finden und dass wir schneller werden in Sachen Genehmigungen von Anlagen. Es gibt gleichwohl noch viel zu tun, das ist auch ein gesellschaftliches Thema, wie wir breite Teile der Bevölkerung auf die Reise mitnehmen.
Für uns ist das Jahr 2030 bereits morgen. Wir müssen die Projekte, die bis dahin umgesetzt sein sollen, quasi schon heute anschieben. Und bei allen Plänen und Infrastrukturmaßnahmen brauchen wir auch jemanden, der am Ende den Schraubenschlüssel in die Hand nimmt. Es gibt viel zu tun.
Vor seinem Eintritt bei der Energiedienst Holding AG war Jörg Reichert zwölf Jahre in verschiedenen Funktionen bei der EnBW Energie Baden-Württemberg AG. Dort hat er zuletzt das Controlling und Risikomanagement geleitet. Seit April 2019 ist der promovierte Betriebswirt Vorsitzender der Geschäftsleitung beim Laufenburger Unternehmen.