Frieden und Völkerverständigung gehören zur DNA der United World Colleges (UWC) wie dem Freiburger UWC Robert Bosch College. 180 Jugendliche aus fast 100 Ländern – auch aus Russland und der Ukraine – besuchen dieses Oberstufeninternat. Was macht der Krieg mit dieser Mission?
VON K ATHRIN ERMERT
Der Kontrast geht kaum größer: An einem sonnigen Frühlingsnachmittag sitzen wir an einem Picknicktisch auf der Wiese oberhalb der Internatsmensa und reden über den Krieg. Und inmitten des blühenden Lebens um uns herum berichten Iryna, Lisa, Mariia, Arina, Marat und Andrej von kämpfenden Vätern und fliehenden Familien, von inneren Konflikten und der Sorge um die eigene Zukunft. Nicht alle sind die richtigen Namen dieser sechs jungen Leute aus der Ukraine und Russland, einige wollen anonym bleiben.
Wie hat sich ihr Leben seit Beginn des Krieges verändert? Mariia korrigiert: „Krieg gibt es in der Ukraine schon acht Jahre.“ Was am 24. Februar begonnen hat, nennt sie „Full Scale Invasion“, also vollumfängliche Invasion. Englisch ist die Alltagssprache am UWC, das sprechen die Ukrainerinnen auch mit den Russen. Die Zuordnung nach Nationalitäten ist indes nicht so einfach, exemplarisch für viele Familien in den beiden Ländern. Relativ eindeutig ist sie nur bei Iryna und Mariia, den beiden Ukraine-rinnen, 17 und 18 Jahre alt, die aus Kiew und Lviv kommen. Arina (18) lebte zwar in Russland, doch ihr Vater war Ukrainer. Erst vor Kurzem hat sie wieder Kon-takt zu ihrer ukrainischen Verwandtschaft geknüpft und die Winterferien dort verbracht. Andrej (18) hat Russland bereits vor sieben Jahren verlassen und lebte mit seiner Mutter in einer Flüchtlingsunterkunft, ehe er ins UWC kam. Lisa und Marat, beide 18, sind die einzigen „richtigen Russen“, die bislang am wenigsten mit dem Konflikt zu tun hatten. Umso schwerer fiel es ihnen, mit der neuen Realität umzugehen.
„Wenn ich keine Nachrichten lese, fühlt es sich wie ein Verrat an meinem Volk an“
Iryna (17) aus der Ukraine
Jede und jeder hat eine Geschichte zu erzählen. Und wie sie das tun, offen und engagiert, sehr ernsthaft und reflektiert, mal mit bebender Stimme, mal aber auch mit einem Lachen, ist ergreifend. Die Schüler lernten, dass es immer mehrere Sichtweisen gebe, sagt Pressesprecherin Ines Mabrouk. Das Thema Krieg sei stets präsent, es gebe im UWC immer Schüler, die aus einem Kriegsgebiet kommen. Und es gehöre zu den Prinzipien der Schule, Jugendliche aus Konfliktstaaten unter dem gleichen Dach wohnen zu lassen.
Der Unterschied jetzt: Der Krieg ist viel näher an uns in Südbaden. „Unser Weltbild ist in den letzten Wochen zusammengefallen“, sagt Thomas Drössel. Der UWC-Geschäftsführer sieht die Zeitenwende im Sicherheitsdenken als Bestätigung der Friedensmission des UWC. Jetzt erst recht. Die Auswahl der ukrainischen, russischen und belarussischen Schüler für das kommende Schuljahr hat die Schulleitung schon bestätigt – ungeachtet dessen, ob sie das Schulgeld zahlen können. Zudem berät man, was mit den drei jungen Ukrainern und Russen passiert, die bald mit der Schule fertig sind.
Marat wollte eigentlich nach seinem Abschluss im Sommer ein Jahr Pause machen und es zuhause mit seiner Familie und seinen Freunden verbringen. Stattdessen bleibt er nun wahrscheinlich in Deutschland, bei Freunden oder bei seiner Gastfamilie. Jeder UWC-Schüler verbringt zwei Wochenenden pro Jahr in einer deutschen Familie, manche auch länger. Marat ist 18 und somit im Militäralter. Deshalb will er nicht zurück, obwohl er großes Heimweh nach seiner Familie hat. Sein 21-jähriger Bruder in Russland wird wegen der Wehrpflicht schon von der Polizei gesucht.
„Ich hätte das Land nicht verlassen, wenn ich mich dort wohlgefühlt hätte“
Arina (19) aus Russland
Auch Arina steht vor einer ungewissen Zukunft, hat weder Geld noch Pläne. Die 19-Jährige fühlt sich von Russland betrogen. „Ich hätte das Land nicht verlassen, wenn ich mich dort wohlgefühlt hätte“, sagt sie. Arina hat 2019 für Alexej Nawalny gearbeitet und demonstriert. Sie wurde verhaftet, kam aber, weil sie erst 17 war, schnell wieder frei. Sie würde auch jetzt am liebsten in Russland auf die Straße gehen. Die Propaganda und Zensur in den sozialen Medien machen sie wahnsinnig. Mit ihrer Mutter, die der kremltreuen Sicht folgt, streitet sie regelmäßig am Telefon. „Ich bin keine normale Russin“, sagt Arina. „Ich bin stur und dagegen.“ Ins UWC zu kommen, sei für sie eine Flucht gewesen – und eine Chance.
Die Jugendlichen hören sich gegenseitig zu, lassen sich ausreden, bleiben konzentriert, auch als einige schon vor Kälte bibbern, weil mit der sinkenden Sonne die Wärme verschwunden ist. Der Russe Andrej huscht kurz weg und kommt mit einer Jacke für sich und einer für die Ukrainerin Mariia wieder. Die bei-den wohnen im gleichen Haus und sind befreundet. Nach dem 24. Februar war erstmal Funkstille. „Ich brauchte etwas Zeit, um die Person sehen zu können, nicht die Nationalität“, sagt Mariia. Auch Andrej wusste nicht gleich, wie er agieren sollte, wenngleich er sich klar vom russischen Regime distanziert. „Mir war wichtig, dass der Krieg die Freundschaft nicht betrifft“, sagt er. Deshalb ist er auf Mariia zugegangen, als sie in der gemein-samen Küche war. „Gerade jetzt ist das Zusammenstehen für den Frieden wichtig“, sagt Andrej. Krieg und Flucht, was viele Ukrainer jetzt erleben, kennt er aus den Erzählungen seiner Mutter, die aus Tschetschenien stammt. Andrej möchte Anwalt werden, um gegen solche Ungerechtigkeiten kämpfen zu können.
Iryna hat sich noch nicht für einen Beruf entschieden. Sie kämpft mit ihrem Reflex, sofort in die Ukraine zu fahren und ihrem Land zu helfen. Sie weiß, dass sie ihre Chancen nutzen und ihr Land lieber langfristig unterstützen sollte. Aber zunächst muss sie ihren UWC-Abschluss schaffen, und das ist gar nicht so leicht, wenn der Kopf woanders ist. „Ich kann nicht abschalten, kann mich nicht konzentrieren“, sagt sie. Jeden Morgen textet Iryna mit ihrem Vater, der sich gleich am ersten Tag der russischen Invasion freiwillig gemeldet hat. Die Vorstellung von ihm in Uniform macht sie zugleich stolz und ängstlich, erzählt sie. Die Mutter ist mittlerweile in Lettland. Iryna liest täglich ein bis zwei Stunden Nachrichten, schon vor dem Frühstück. „Wenn ich das nicht tue, fühlt es sich verkehrt an, wie ein Verrat an meinem Volk“, sagt sie und dass sie sich schlecht fühle, wenn sie hier auf-wacht, wo es friedlich ist.
„Emotionen bringen niemandem was. Es ist nicht der Ort und die Zeit dafür“
Mariia aus Lviv
Auch Mariia sagt, dass sie sich schämt, dass es ihr hier gut geht. Ihr Vater hat ihre Mutter und die beiden jüngeren Geschwister nach Polen gebracht. Er selbst ist nach Lviv zurückgekehrt. Er ist Unternehmer und kann arbeiten. Nebenher engagiert er sich im Freiwilligendienst. Es gebe viel zu tun in der Stadt, in der viele Flüchtlinge gelandet sind, und die Hilfsgüter ankommen. Mariia hält ihre Emotionen zurück – „das bringt ja niemandem was. Es ist nicht der Ort und die Zeit dafür“, sagt sie. Allerdings kann sie immer noch nicht schlafen und bekommt jetzt Tabletten.
Gegen den großen Ärger, den Mariia verspürt, hilft es ihr, zu helfen. Sie organisiert Proteste, steht im Kontakt mit der deutsch-ukrainischen Gesellschaft in Freiburg und packt an, wo es geht. Das UWC ist gut in der Stadt vernetzt. Jeden Mittwochvormittag gehen alle Schüler für eine Art Freiwilligendienst raus aus dem Internat. Die Jugendlichen, die zum überwiegenden Teil Stipendien erhalten, sollen so etwas an die Gemeinschaft zurückgeben. Sie arbeiten etwa in Seniorenheimen, Kitas, bei der Tafel oder dem S’Einlädele, das sich seit jeher und jetzt natürlich erst recht für die Ukraine engagiert.
Lisa häkelt gegen die Ohnmacht. „Ich habe wirklich Angst, fühl mich sehr unwohl, weil ich nicht beeinflussen kann, was die Propaganda anrichtet“, sagt die 18-Jährige aus Moskau. Sie hat selbst anfangs nicht glauben wollen, was in der Ukraine passiert. „Ich wollte den Russen glauben, aber ich habe gemerkt, dass das nicht geht.“ Ihre kleinen gehäkelten Wale in den ukrainischen Nationalfarben will sie verkaufen und das Geld für humanitäre Projekte spenden.
Darf man auch für Waffen spenden? Und sollte die Nato eine Flugverbotszone ein-richten, auf die Gefahr hin, selbst in den Krieg gezogen zu werden? Über solche Fragen wird derzeit viel diskutiert am UWC, vor allem im General Assembly, der Generalversammlung, zu der sich alle Schüler und Mitarbeiter jeden Montag-morgen treffen. Da geht es um praktische Dinge wie Covid-Regeln oder Mülltrennung und immer auch um Themen, die die Schüler einreichen. Jetzt ist der Krieg sehr präsent. Aber nicht nur der in der Ukraine, auch der Krieg in Syrien stand jüngst auf der Agenda.
Die meisten Erwachsenen sind gegen Waffen. „Das geht gegen meine pazifistische Einstellung“, sagt Drössel. Aber er kann eine 17-Jährige verstehen, die das fordert, weil ihre Eltern gerade bombardiert werden. „Das Besondere beim UWC ist: Man muss kein Ergebnis haben“, sagt die Pädagogin Tina Patzelt, die für die Aktivitäten außerhalb des Unterrichts zuständig ist. „Man darf zugeben, dass man keine Antwort weiß.“