Randlage? Provinz? Die relativ großen Entfernungen zu den nationalen Wirtschaftszentren sowie die Lage an der einzigen innereuropäischen EU-Außengrenze hängen dem Landkreis Waldshut seit jeher an. Und sorgen dafür, dass die Region am Hochrhein regelmäßig unterschätzt wird.
VON JUSTUS AMMANN
Denn der Landkreis mit seinen Unternehmen von Weltruf ist so etwas wie ein „schlafender Riese“ im äußersten Südwestzipfel Baden-Württembergs, wo die Landesgrenzen zur Eidgenossenschaft mäandrieren und Kuriositäten wie die deutschen Enklaven Büsingen, Verenahof oder Lottstetten beheimatet sind.
Dazu passt dann, wenn der Landkreis bundesweite Berühmtheit erlangt, weil Schweizer Bauern – begleitet von medialem Getöse – zu guten Preisen landwirtschaftliche Flächen aufkaufen und den heimischen Landwirten angeblich das Land streitig machen. Wobei im aufgeregten Lärm unterschlagen wird, dass zum Kauf und Verkauf immer zwei Parteien gehören.
Aber auch die Auseinandersetzungen um den Fluglärm des nur 15 Kilometer entfernten Flughafens Zürich-Klotens, die seit rund vier Jahrzehnten und mehrfach gescheiterten Verträgen schwelen, unterstreichen Restriktionen und Chancen des Landkreises Waldshut. Der wirtschaftliche Austausch mit dem kleinen, aber wirtschaftsstarken Nachbarn ist für den Landkreis ebenso existenziell wie zukunftsträchtig, während ihm die Randlage in Bund und Land eine wichtige Mittlerrolle zuweist.
Ohne, dass er davon wirklich profitiert, oder die übergeordneten politischen Strukturen in Berlin oder Stuttgart dafür dankbar wären. Denn eine unliebsame Tatsache ist und bleibt: Der Landkreis Waldshut ist verkehrstechnisch nach wie vor „abgehängt“.
Autobahn mit vielen Lücken
Das Thema Verkehr hat in der Region ein einfaches Kürzel: A98. Und das seit über sechzig Jahren. Denn 1960 begannen die Diskussionen über eine neue Autobahn als „Fernverbindung zwischen Paris und Budapest“. Die Autobahn 98 ist derzeit nur in vier Teilstücken mit einer Länge von insgesamt 47 Kilometern fertiggestellt. Sie verläuft zwischen dem Autobahndreieck Weil am Rhein und Rheinfelden-Ost, Murg und Hauenstein, Waldshut-Tiengen und Lauchringen sowie zwischen dem Autobahnkreuz Hegau und der Anschlussstelle Stockach-Ost. Die restlichen Teilstücke zwischen Rheinfelden und Tiengen sind im Bau oder in Planung.
Mögliche Anbindungen ins Allgäu im Osten, in die Schweiz nach Süden und nach Frankreich im Westen wurden entweder verworfen oder sind bestenfalls im Ideenstadium. Und hier bekommt das Bild vom „schlafenden Riesen“ wieder Farbe: Mit der verkehrstechnischen Erschließung und Anbindung könnte sich im Landkreis am Hochrhein eine ungeahnte Dynamik entwickeln.
In wenigen Minuten in Singen und weiter am Bodensee und in ebenso kurzer Zeit am Verkehrsknotenpunkt Basel würde die Rand- zur Zentrumslage. Ein weiteres Handicap ist die fehlende, wirklich leistungsfähige Bahnanbindung. Michael Keller, bei der Sto SE& Co.KGaA Vorstand für Markenvertrieb, Distribution und Marketingkommunikation, sagt es so: „Die Tatsache, dass wir unsere schwergewichtigen Rohstoffe schon seit 2001 nicht mehr über die Bahn anliefern lassen können, ist weder aus ökologischen noch aus verkehrstechnischen Gesichtspunkten zeitgemäß.“
Apropos Zentrum – das ist ohne Zweifel die Kreisstadt Waldshut-Tiengen, wunderschön am Hochrhein gelegen, mit ebenso schöner Fußgängerzone und attraktiven Ladengeschäften, Restaurants und Cafés. Vor der großen Kreisstadt müssen sich aber auch zwei weitere städtische „Perlen“ des Landkreises nicht verstecken: Bad Säckingen mit seiner historischen Rheinbrücke und ebenso schöner Fußgängerzone ist touristisches Highlight am Rhein, während St. Blasien mit Dom und Jesuitenkloster mitten im stillen Hochschwarzwald gelegen, einzigartigen Charme verspricht.
Überhaupt sind es die landschaftlichen Gegensätze, die diesen eben auch touristisch attraktiven Landkreis prägen. Ob Wutachschlucht, Steinatal, Schlüchtoder Schwarzatal oder das lange und ebenso wilde Albtal – wilde, urwüchsige Landschaft, wechselt fast übergangslos ins dicht besiedelte und mit vielen Unternehmen brummende Tal am Hochrhein.
Weltweit aktive Unternehmen
Die gibt es zahlreich, wirtschaftlich stark und oft weltweit tätig: AWW Wutöschingen als einer der letzten am Hochrhein verbliebenen Aluminium-Hersteller, Dunkermotoren in Bonndorf, Franke in Bad Säckingen, hago Automotive in Küssaberg, Sedus Stoll mit weltweit gefragten Büromöbeln in Dogern, die Sto SE & Co. in Stühlingen und die Vita Zahnfabrik in Bad Säckingen oder Maryan Beachwear trotzen der schlechten Verkehrsanbindung und halten ihren Gründungsstandorten die Treue.
Sie sind gleichzeitig wichtige Anker für Zuliefer- und Handwerksbetriebe – und Nukleus für Start-ups und Neugründungen im Bereich neuer Technologien. Hier profitiert der Landkreis nicht zuletzt von der Nähe zum Forschungs- und Universitätsstandort Zürich, aber auch vom hochdynamischen wirtschaftlichen Umfeld jenseits des Rheins.
Dazu gehört auch, dass rund ein Fünftel der Beschäftigten täglich in die Schweiz einpendeln. Allerdings plagt die hiesigen Unternehmen auch das Problem der Gewinnung qualifizierter Arbeitskräfte. Diejenigen, die von weiter her kommen sollen und wollen, sind meistens etwas mühevoller zu überzeugen, dass das Leben am Hochrhein mit unschlagbaren Freizeitwerten, wilder Natur und gleichzeitiger Nähe zu urbanen Zentren wie Zürich, Basel oder Freiburg aufwarten kann.
Freizeitmöglichkeiten bedeuten hier auch Möglichkeiten, die man auf den ersten Blick nicht auf dem Schirm hat. So bieten zum Beispiel Schlücht- und Albtal Kletterfelsen, die vom Anfänger bis zum Profi alle Bedürfnisse erfüllen. Der sogenannte „Hotzenwald“ wiederum, eine Hochebene, auf rund 1.000 Meter gelegen, wartet mit ebenso einsamen wie anspruchsvollen Langlauf-Loipen auf, die an Finn- oder Lappland erinnern. Das wissen sogar die von vielfältigsten Nordic-Angeboten verwöhnten eidgenössischen Nachbarn zu schätzen. Bei entsprechender Schnee- und Wetterlage genießen sie die Loipen mit dem oftmals fantastischen Blick „aus der ersten Reihe“ auf die heimischen Alpenkette. „Brücke zur Schweiz – Tor zum Schwarzwald“, so beschreibt der Landrat Martin Kistler den eigenen Landkreis. Und macht deutlich, der Landkreis Waldshut bedeutet nicht Randlage, sondern Leben und Arbeiten, Leben im Herzen Europas.