Es werden mehr, sie sind fitter, gelassener und haben viel Erfahrung. Doch sie werden oft nicht ernst genommen, weil sie langsamer sind oder mit der Digitalisierung fremdeln. Über Alte in unserer Gesellschaft.
VON KATHRIN ERMERT
Wann ist man alt? Das ist gar nicht so einfach zu beantworten. Denn Alter ist nicht nur die faktisch-juristische Zahl, die sich vom Geburtstag ableitet. Es gibt auch ein biologisches Alter, das bis zu zehn, zwanzig oder noch mehr Jahre vom kalendarischen abweichen kann – wohlgemerkt in beide Richtungen. Es hängt vom gesundheitlichen Status-quo ab, also wie man sich bewegt, ernährt, ob man raucht oder schlechte Cholesterinwerte hat. Das biologische Alter lässt sich im Gegensatz zum kalendarischen zwar beeinflussen, beruht aber auf messbaren Werten. Ganz anders das gefühlte Alter, das eine rein subjektive Einschätzung der Lebenszeit ist, die wir glauben noch vor uns zu haben.
Die Gerontologie definiert, dass ein Mensch alt ist, wenn die Hälfte seines Jahrgangs nicht mehr lebt. Demnach sind hierzulande erst die über 80-Jährigen alt. Die Weltgesundheitsorganisation setzt die Grenze zum Altsein dagegen bei 65 Jahren und somit meist beim Eintritt ins Rentenalter an. Für viele stellt schon der 50. Geburtstag einen Wendepunkt dar. Die ersten grauen Haare kommen lange davor, ebenso wie die ersten Falten, und der altersbedingte Abbau von Muskelmasse beginnt sogar schon mit 30.
Konservativ, religiös, engagiert
In den zurückliegenden Jahrzehnten ist die Zahl der Alten deutlich gestiegen und damit auch ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung. Mehr als ein Fünftel der Menschen in Deutschland ist über 65. Die Gruppe der Hochbetagten ab 85 hat sich verdoppelt. Diese Entwicklung wird sich aufgrund des demografischen Wandels und der hohen Lebenserwartung noch verstärken. Die Babyboomer rücken Richtung Ruhestand. Der geburtenstärkste Jahrgang in Deutschland, die 1964 Geborenen, werden nächstes Jahr 60.
Viele Senioren machen keine Anstalten, sich aufs Altenteil zu setzen. Kürzlich präsentierte der 80-jährige Harrison Ford die fünfte Folge seines Actionfilms „Indiana Jones“ während in der gleichen Woche der vier Jahre jüngere Punksänger Iggy Pop beim Konzert in Mannheim wie immer seinen sehnigen Oberkörper zeigte. Vergleichbares lässt sich abseits der Bühne beobachten. Omas und Opas unterscheiden sich heute weit weniger von ihren Kindern und Enkeln, als ihre eigenen Eltern und Großeltern das taten. Sie hören die gleiche Musik, ziehen sich ähnlich an.
Manche Stereotype haben dagegen Bestand, zumindest laut Umfragen. Alte wählen konservativer, sind religiöser, spenden und engagieren sich mehr. Mit dem Alter wachsen der Altruismus und die Zeit dafür. Allerdings ändern sich die Interessen. Die Generation der 1968er ist heute in ihren Siebzigern. Sie sind politisch interessiert und haben noch Pläne. Manche reisen lieber um die Welt, statt die Enkel zu hüten. Während der Schwarzwaldverein Mitgliederschwund beklagt und deshalb die Wanderwege nicht mehr in gleichem Maß pflegen kann, hat etwa die Freiburger Gruppe der „Omas gegen rechts“, die sich für Demokratie und Klima starkmachen, Zulauf.
Resilienz und Expertise
Die noch berufstätigen Älteren arbeiten vielleicht nicht mehr ganz so fix, haben aber andere Stärken, beobachtet Arbeitsmarktexperte Andreas Seltmann, selbst 55 Jahre alt. Aufgrund ihrer Erfahrung reagieren sie oft gelassener auf Probleme und sind insgesamt resilienter gegenüber Belastungen als jüngere Arbeitnehmer. Ältere Beschäftigte haben sich im Lauf ihres Berufslebens einen Werkzeugkasten an Möglichkeiten erarbeitet, der sie mit belastenden Situationen gut umgehen lässt. Doch diese Erkenntnis setzt sich noch nicht in allen Unternehmen und Personalabteilungen durch. „In der Praxis ist es leider immer noch nicht einfach, mit 50 plus einen Job zu finden“, sagt Seltmann. Zwar werde mittlerweile häufiger das Potenzial von Seniorexperten gesehen, man stelle sie allerdings oft lieber auf Projektbasis als dauerhaft an.
„In der Praxis ist es leider immer noch nicht einfach, mit 50 plus einen Job zu finden.“
Andreas Seltmann, Unternehmensberater
Duschan Gert ist so ein Seniorexperte – und sehr zufrieden damit. Der 62-Jährige hat mehr als 30 Jahre bei Edeka Südwest gearbeitet, zuletzt als Geschäftsführer in der Produktion. 2021 gründete er mit seiner Nichte den auf nachhaltige Produkte spezialisierten Onlineshop „buyhappy“, überließ die Anteile der Familie und orientierte sich neu. Jetzt stellt er sein Know-how nicht mehr nur einem, sondern vielen Unternehmen zur Verfügung. „Das ist mein Lebenselixier, ich liebe die kontinuierliche Weiterentwicklung im Leben“, schwärmt Gert. Er kennt viele „hochentwickelte Profis“ jenseits der 50, die aus ihrem 80-Stunden-Job ausgestiegen sind – manche freiwillig, andere nicht –, die Lust haben, selbstbestimmt zu arbeiten und ihr Wissen zu teilen. Der Bedarf auf Unternehmensseite sei da: „Die stehen vor einem Riesenwandel in der Gesellschaft sowie in ihren eigenen Strukturen und ihnen fehlen die Fachkräfte“, sagt Gert. Deshalb will der ehemalige Edeka-Manager zusammen mit zwei Freunden eine Plattform gründen, um diese Experten an Unternehmen zu vermitteln. „Exsperity“ soll sie heißen, und im Herbst an den Start gehen. Die Domain ist gesichert.
Gegen Altersdiskriminierung
Domains, Websites, Internet: Für Ria Hinken ist das kein Problem. Die Kommunikationstrainerin und PR-Beraterin im Ruhestand hat Zeit ihres Berufslebens mit Datenverarbeitung, wie das anfangs hieß, gearbeitet. Heute ist sie 70 Jahre alt und setzt sich für digitale Teilhabe ein. Sie weiß, dass viele Gleichaltrige und Ältere nicht so selbstverständlich wie sie mit dem Handy umgehen können, während sich die Welt um sie herum zunehmend digitalisiert – vom Arzttermin über die Banküberweisung bis zur Steuererklärung. Hinken will Älteren helfen, solche Onlineangebote zu nutzen und hat Smartphone-Sprechstunden ins Leben gerufen. An mehreren Freiburger Schulen erklären einmal im Monat Teenies den Senioren die digitale Welt.
„Ich will, dass man uns als Zielgruppe respektiert – nicht nur für Rollatoren.“
Ria Hinken, Altersexpertin
Mit diesem generationenvereinenden Projekt arbeitet Hinken zugleich gegen Vorurteile an – ihr anderes Betätigungsfeld. Denn sie beobachtet „erschreckende Stereotype“ über Alte – starrsinnig, unkooperativ, nicht offen für Neues, lernunwillig – auch bei den Alten selbst. Und sie nimmt allerorten Altersdiskriminierung wahr. Unterwegs in der Straßenbahn zum Beispiel, wo sie Kids über Alte feixen sieht. Oder in der Telefonhotline, wo sie den anderen schon seufzen hört, wenn sie nur mal einen Moment überlegen muss. Oder in der Klinik, wo die Ärztin sie anblaffte, dass selbst 90-Jährige erwarteten, schmerzfrei zu sein. Damals war Ria Hinke gerade mal Anfang 60 und hatte sich am Knie verletzt.
Solchen Erfahrungen will auch das Netzwerk „Altersbilder“ der Uni Konstanz entgegenwirken, in dem Ria Hinken mitgearbeitet hat. Besonders verbreitet und unzutreffend seien negative Altersbilder in der medizinischen Versorgung und Pflege. „Weil falsche Normen herrschen, sind Fehlversorgungen und Unter-Inanspruchnahmen weit verbreitet“, sagt Verena Klusmann, Professorin für Gesundheitsförderung und Prävention, die das Netzwerk von 2016 bis 2022 geleitet hat. „Wir müssen damit aufräumen. Gebrechlichkeit und Depression im Alter sind nicht normal.“
Ria Hinken nimmt sich und ihr Alter äußerst positiv wahr. Ihren 70. Geburtstag vergangenen Herbst hat sie mit einer großen Party gefeiert. Sie wird als Expertin für Generationenaustausch geschätzt und als Speakerin gebucht, dreimal schon auf der Republica in Berlin, dem „Festival für die digitale Gesellschaft“. Ihr Ziel? „Dass man uns Senioren als Erwachsene wahrnimmt, nicht als alte Menschen. Und dass man uns als Zielgruppe respektiert – nicht nur für Rollatoren.“