Deutschland droht der Pflegenotstand. Die Zahl der alten und damit auch pflegebedürftigen Menschen wächst, während die der Pflegekräfte zurückgeht. Eindrücke aus Freiburg und Offenburg.
VON SUSANNE MAERZ
Bereits jetzt reicht das Angebot an stationären und ambulanten Pflegeplätzen oft nicht aus. „Man muss mit Wartezeiten rechnen und in Not- und Akutsituationen den Platz nehmen, der frei ist“, sagt Anja Schwab, die Leiterin des Freiburger Seniorenbüros mit Pflegestützpunkt, das unter anderem bei der Suche nach Heimplätzen hilft. Das System sei eigentlich schon am Anschlag. „Wir haben es mit einer großen Bandbreite an Anliegen jeden Tag zu tun, die enorme Verzweiflung von Angehörigen ist spürbar. Die einen weinen, bei anderen ist die massive Belastung auch im Tonfall spürbar“, berichtet Anja Schwab. „Das ist eine sehr große Belastung für uns alle.“
Derzeit leben in Freiburg rund 7300 Menschen mit Pflegegrad zwei oder höher. Fast 60 Prozent werden von ihren Angehörigen versorgt, um etwa 17 Prozent kümmern sich (auch) ambulante Pflegedienste. Rund ein Viertel leben in Pflegeheimen. Anja Schwab, geht davon aus, dass im Jahr 2030 in Freiburg 1000 Menschen mehr pflegebedürftig sind als heute. Und in der Ortenau? „In der stationären Dauerpflege sind die meisten Einrichtungen voll belegt“, sagt Anskar Hail, Sozialplaner im Bereich der Altenhilfe beim Landratsamt des Ortenaukreises. „Aber mit vorausschauender Planung sollte mittelfristig ein Platz verfügbar sein.“ Wenn auch nicht immer am Wohnort oder eben nicht sofort. Auch in der Ortenau wird sich die Lage verschärfen. Beispiel Dauerpflegeplätze: Derzeit gibt es dort rund 4300 – davon circa 650 in Offenburg –, im Jahr 2030 werden laut der Prognose des Landratsamtes rund 4900 benötigt, in Offenburg etwa 690.
Mobile Pflegeteams kommen ins Haus
Wie ist die Lage bei einem der großen ambulanten Pflegedienste Freiburgs? „Bitte nehmen Sie mich auf.“ Mit diesen Worten wenden sich Hilfebedürftige regelmäßig an die Mitarbeitenden der Evangelischen Sozialstation Freiburg, wie Inge-Dorothea Boitz, Geschäftsführerin und Pflegedienstleitung, berichtet. Längst nicht immer kann sie zusagen – die Evangelische Sozialstation kann nur so viele Pflegebedürftige aufnehmen, wie ihre Beschäftigten auf ihren Touren auch betreuen können.
Die rund 240 Pflegefach- und Hauswirtschaftskräfte machen täglich bis zu 920 Hausbesuche in Freiburg. Sie kaufen zum Beispiel ein, bügeln, verabreichen Medikamente oder waschen die Pflegebedürftigen. Dies sind überwiegend alte Menschen, aber auch Jüngere, die beispielsweise nach einem Unfall zum Pflegefall geworden sind oder Kinder und Jugendliche mit Handicap. Zu den einen kommen sie nur einmal am Tag, zu anderen bis zu fünfmal. Je nach Bedarf. Der Bereitschaftsdienst ist rund um die Uhr erreichbar.
Inge-Dorothea Boitz betont: „Bis jetzt konnten wir immer alle unsere Patienten versorgen.“ Angesichts der zum Teil hohen Ausfallquoten während der Pandemie aufgrund von Infektionen und Quarantäne sei dies besonders herausfordernd gewesen, aber stets gelungen. Das Geheimnis: „Wir bilden seit zwölf Jahren exzessiv aus“, sagt die Geschäftsführerin. Derzeit zählt die Evangelische Sozialstation 76 Azubis und duale Studierende, davon rund 60 in der Pflege. Diese fahren aber nie allein eine Tour, sondern begleiten stets Pflegefachkräfte, die diese wiederum anleiten.
Im Gegensatz zu vielen anderen Arbeitgebern muss die Evangelische Sozialstation den Nachwuchs nicht aufwendig rekrutieren. „Wir erhalten bis zu 130 Bewerbungen im Jahr. Wir können auswählen“, sagt Inge-Dorothea Boitz. Die enge Begleitung der Auszubildenden habe sich herumgesprochen. Natürlich müssten sie Bewerber auch ablehnen, nicht jeder sei für die Pflege geeignet. Die, die es sind, halten der Evangelischen Sozialstation meist viele Jahre die Treue. „Wenn man die Azubis gut behandelt, bezahlt und begleitet und ihnen Wertschätzung gibt, dann bleiben diese auch“, betont sie und berichtet von einer Übernahmequote von 98 Prozent. Das Credo des Pflegedienstes: Denen, die es wollen, so lange wie möglich ein Leben in den eigenen vier Wänden ermöglichen.
Letzter Ausweg Pflegeheim
Dies ist manchmal schneller nicht mehr möglich, als man es sich vorstellen kann oder mag. Wenn etwa nach einem unglücklichen Sturz oder einem Schlaganfall das ganze System, das man sich zum Beispiel mit Nachbarn, Angehörigen und einem mobilen Pflegedienst aufgebaut hat, zusammenbricht. Das trifft viele unvorbereitet. „Leider melden sich die meisten erst, wenn es zu spät ist und sie eigentlich sofort oder maximal in zwei Monaten einen Platz brauchen“, sagt Anja Schilling, Vorstand des Vereins Marienhaus St. Johann, der in Freiburg derzeit zwei und bald wieder drei Pflegeheime sowie eine Tagespflege mit rund 350 Plätzen betreibt. Dabei gibt es Anlaufstellen, die nicht nur in der Not, sondern auch frühzeitig über die verschiedenen Angebote von der Nachbarschaftshilfe bis zum Heim informieren und bei der Suche helfen. So wie das Freiburger Seniorenbüro und die Pflegestützpunkte in der Ortenau.
Als Grund dafür, warum sich viele Menschen erst spät über Pflegeheime informieren, sieht Anja Schilling deren schlechtes Image. „Die meisten sind der Meinung: Da will ich nicht hin“, sagt sie und betont: „Wir müssen deutlicher machen, dass Heime nicht nur ein Ort für gute Pflege, sondern auch von Gemeinschaft mit einem sehr aktiven sozialen Leben sind.“
Gerade ist Anja Schilling dabei, das kleinste ihrer Häuser, das jüngst durch einen Neubau ersetzt werden musste, zu füllen. Von den 72 Plätzen ist inzwischen ein Drittel belegt. Eigentlich sollte es schon mehr sein, doch die Suche nach den Mitarbeitenden dauert länger, als Schilling ursprünglich dachte. Bis zum Jahresende will sie den Rest schaffen. Dabei kann sie zum einen auf das Team aus dem Vorgängerbau zurückgreifen, das während der Bauzeit in anderen Einrichtungen untergekommen ist. Zum anderen setzt sie – so wie auch sonst – auf Mund-zu-Mund-Propaganda, das wohngruppenorientierte Konzept und ausgelernte Azubis. Auf diese Weise ist es ihr bisher stets gelungen, die meisten Stellen zu besetzen. Etwa ein Prozent der Belegschaft sind derzeit Leiharbeiter. „Wir sind jedoch dabei, diese Arbeitsverhältnisse zu beenden, da die Zusatzkosten nicht refinanziert werden“, sagt Anja Schilling.
Unter den 380 Beschäftigten des Vereins sind 38 Auszubildende – „zum großen Teil aus anderen Ländern“, berichtet Schilling. Viele würden erst ein Freiwilliges Soziales Jahr machen. Wer sich dann für die dreijährige Ausbildung zur Pflegefachkraft entscheidet, hat danach eine Bleibeperspektive, wer die ein- oder zweijährige zum Pflegehelfer wählt, bislang nicht. „Die brauchen wir aber“, appelliert Schilling an die Politik. Ansonsten berichtet sie von einer sehr geringen Fluktuation bei den Fachkräften – vergangenes Jahr sind gerade einmal vier von ihnen gegangen. Drei in Kliniken, eine in die Schweiz. Auch wenn sie nach Caritastarif zahle, könne sie mit den dortigen Gehältern nicht mithalten.
Problem Wohnraum
Ausbildung in großem Stil, so wie es das Marienhaus St. Johann und die Evangelische Sozialstation vormachen, ist eine Möglichkeit, dem Personalmangel zu begegnen. Dieser ist in den Freiburger Pflegeeinrichtungen laut Anja Schwab vom Freiburger Seniorenbüro „definitiv das größte Problem“. „In stationären Einrichtungen ist die Lage schon länger angespannt. Seit zwei Jahren leiden auch immer mehr mobile Pflegedienste unter massivem Personalmangel.“ Zwei kleinere hätten deswegen geschlossen. Und auch in vielen Heimen herrscht bereits jetzt angesichts von Krankheiten und Kündigungen immer wieder Personalnot. Oft sind zu wenige Mitarbeitende da, um die Pflegebedürftigen zu versorgen.
Die Lage wird sich verschärfen. Vor allem, weil der Mangel in Zukunft zunimmt, wenn die Babyboomer in Rente gehen – in den Landkreisen Freiburg, Emmendingen und Breisgau-Hochschwarzwald sind derzeit 23 Prozent der Beschäftigten älter als 55 Jahre. Darunter sind eben auch viele Pflegekräfte. Auch wenn viele Menschen länger fit sind, nimmt die Zahl alter Menschen überproportional zu und damit auch die Zahl der Pflegebedürftigen.
Mehr Hilfe untereinander
Was also tun? Die Stadt Freiburg hat erst kürzlich eine Plakatkampagne gestartet, die das Ziel hat, dass Eigentümer Wohnungen gezielt an Pflegekräfte vermieten. Denn egal, bei wem sie arbeiten: Pflegekräfte sind nie Top-Verdiener und stets auf günstigen Wohnraum angewiesen. Und der ist bekanntlich in Freiburg nur schwer zu haben. Laut Inge-Dorothea Boitz von der Evangelischen Sozialstation führt der Mangel dazu, dass Mitarbeitende mit ihren Familien oft auf zu engem Raum oder im Umland wohnen. Daher begrüßt sie die Kampagne der Stadt.
Diese allein reicht natürlich nicht. „Wir müssen mehr Ressourcen zur Verfügung stellen und den Pflegeberuf attraktiver machen“, sagt Anja Schwab vom Freiburger Seniorenbüro. Der Ortenauer Sozialplaner Anskar Hail ist überzeugt, dass die neue, generalistische Pflegeausbildung, die die ehemaligen Berufe Alten-, Kinderkranken- und Krankenpfleger vereint, dabei hilft. „Sie stärkt die Ausbildung in der Pflege auch qualitativ.“ Gleichzeitig müssten die Fach- von mehr Hilfskräften unterstützt werden.
Den Abbau der Dokumentationspflichten sieht er als weitere Möglichkeit. Inge-Dorothea Boitz von der Evangelischen Sozialstation fordert ebenfalls Bürokratieabbau – vor allem, wenn es um die fertig ausgebildeten Lehrlinge aus anderen Ländern geht, die oft wochenlang auf eine Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis warten müssen, weil die Behörden mit dem Bearbeiten der Anträge nicht hinterherkommen.
Mit den vorhandenen Fachkräften indes ist es allein nicht getan. Boitz betont: „Wir müssen uns wieder mehr untereinander in der Nachbarschaft helfen und zum Beispiel pflegende Angehörige unterstützen“, sagt sie. „So, wie es früher auf dem Dorf üblich war.“ Auch andere Wohnformen seien nötig – und ein Umdenken in der Gesellschaft insgesamt. Und Anskar Hail sagt: „Die Menschen sind im statistischen Mittel länger fit und in der Lage, ehrenamtlich tätig zu sein. Diese Potenziale gilt es auszuschöpfen.“