Eine neue Biografie aus dem Freiburger 8Grad Verlag über die Jüdin Lotte Paepcke beleuchtet nicht nur, wie sie den Holocaust überlebte, sondern auch wie schwer es war, im Land der Täter weiterzuleben, in dem der Antisemitismus nie aufhörte. „Es wurde nie wieder gut“ ist ein eindringliches Buch mit bedrückender Aktualität.
VON CHRISTINE WEIS
„Sie meinen wieder unser Leben. Sie richten es wieder auf, das Gespenst des Pogroms, die gewaltige Feindschaft gegen unsere Würde, unsere Existenz“, schreibt Lotte Paepcke in der Zeitschrift Allmende. „Es trifft mich jetzt in hohem Alter und geht nun auch schon Kinder und Enkel etwas an. Jüdische Gräber geschändet, Zerstörungen an Synagogen, Schmähungen gegen jüdische Gemeinden, ‘Judenschweine’ an Mauern angeschrieben.“ Dies schrieb Lotte Paepcke (1910–2000) im Jahr 1992. Es hat leider heute noch Gültigkeit, und schlimmer noch: Seit den Neunzigerjahren erstarkt der Antisemitismus in Deutschland kontinuierlich. 2480 antisemitistische Vorfälle hat der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (Rias) im Jahr 2022 erfasst. Nachdem die radikal islamistische Hamas am 7. Oktober eine Terroroffensive gegen Israel gestartet hat, nehmen hierzulande antiisraelische und antisemitischen Vorfälle verstärkt zu.
Was hätte Lotte Paepcke wohl zu den aktuellen Ereignissen gesagt? Der Studioleiter des SWR Freiburg, Christoph Ebner, stellte diese Frage der Paepcke-Biografin Gisela Hack-Molitor Ende Oktober bei der Buchpremiere. Darauf hatte die Literaturwissenschaftlerin keine Antwort. Wie auch, es wäre zu spekulativ. „Gut, dass sie das nicht erleben muss“, lautete ihr Kommentar. Dann verwies Hack-Molitor in dem Zusammenhang auf eine Aussage Paepckes in dem bereits zitierten Beitrag in Allmende. Darin kritisiert Paepcke jene Deutschen, die den Holocaust mit dem aufrechneten, was im Namen Israels im Libanon und an den Palästinensern geschehe, und die behaupteten: „Seht, wie sie sind, die Juden, was sie da anrichten: Nicht besser ist es als das, was unter Hitler geschah!“ Auch solche Stimmen hört man wieder.
„Sie meinen wieder unser Leben. Sie richten es wieder auf, das Gespenst des Pogroms, die gewaltige Feindschaft gegen unsere Würde, unsere Existenz.“
Lotte Paepcke
Wer war Lotte Paepcke?
Lotte Mayer (später Paepcke) wurde 1910 in Freiburg geboren. Ihre Eltern, der SPD-Stadtrat Max Mayer und seine Frau Olga, betrieben ein Ledergeschäft in der Schusterstraße. Sie und Lottes Bruder Hans emigrierten nach der Machtergreifung der NSDAP zunächst in die Schweiz und später in die USA. Lotte blieb in Deutschland. Sie studierte Jura in Grenoble, Berlin und Freiburg. Während sie 1933 ihr Staatsexamen im Regierungspräsidium in Karlsruhe ablegte, wurde die Hakenkreuzfahne auf dem Justizministerium gehisst. 1934 heiratete sie den Literaturhistoriker Ernst Paepcke. Er war Protestant – und sogenannte „Mischehen“ waren noch erlaubt. 1935 kam ihr Sohn Peter zur Welt. Berufsbedingt, Ernst Paepcke arbeitete in der Pharmaindustrie, zog die Familie nach Bielefeld, Köln und Leipzig. 1943 wurde Lotte zur Zwangsarbeit in einer Pelzfabrik verpflichtet. Im Winter 1944 erkrankte sie schwer und kam mit Peter nach Freiburg zurück. Zunächst wurde sie von Freunden versteckt. Schließlich nahm sie das katholische Vincentius-Krankenhaus auf. Bei der Bombardierung Freiburgs am 27. November 1944 wurde das Spital zerstört, Paepcke blieb aber unverletzt. Pater Heinrich Middendorf gab ihnen infolge im Herz-Jesu-Kloster in Stegen Zuflucht. Middendorf beherbergte dort weitere Juden. Zur Tarnung arbeitete Paepcke im Klostergarten, während Peter im Waisenhaus untergebracht war. So blieben sie von der Gestapo unentdeckt.
„In den Behörden saßen nach dem Krieg noch immer die Nazis und sie musste nachweisen (!), dass die Verfolgung durch die NSDAP der Grund war, warum sie krank geworden war.“
Lotte Paepcke
Nach Kriegsende litt Paepcke an Angstzuständen und Depressionen. Bei ihrem Wiedergutmachungsverfahren erlebte Paepcke die zweite Verfolgung, die sie so schildert „In den Behörden saßen nach dem Krieg noch immer die Nazis und sie musste nachweisen (!), dass die Verfolgung durch die NSDAP der Grund war, warum sie krank geworden war.“ Deutschland, Freiburg, der Schwarzwald, es war nicht mehr ihre Heimat – und auch Israel sollte ihr keine sein: „Vieles ist leichter in Israel, vor allem Licht und Wüste. Aber es kann keine Heimat mehr werden. So muß es ohne Heimat gehen.“
Die Familie lebte nach dem Krieg in Karlsruhe. 1949 und 1954 wurden die Söhne Michael und Andreas geboren. Ernst Paepcke starb 1963. Lotte Paepcke engagierte sich in Frauenverbänden, arbeitete in der Eheberatungsstelle und als Autorin vor allem für den Südwestfunk (SWF). Die Gleichberechtigung, Geschlechterverhältnisse, jüdisches Leben und die Nazizeit mit deren Fortwirken in die Gegenwart waren ihre wiederkehrenden Themen. Sie starb am 9. August 2000.
Gegen das Vergessen
Gisela Hack-Molitor erzählte bei der Buchpremiere, dass sie Lotte Paepcke nicht kannte. Lektorin Marion Voigt hatte ihr eine Vorschlagsliste mit Namen gesendet, die für eine Biografienreihe im 8Grad Verlag infrage kommen. Eigentlich habe sie keine Zeit für ein solches Buchprojekt gehabt. Doch der unbekannte Name auf der Liste machte sie neugierig. Die wenigen Werke von Paepcke sind heute alle vergriffen: „Unter einem fremden Stern“ (1952), „Ein kleiner Händler, der mein Vater war“ (1972), „Hier und fort. Gedichte“ (1980), „Ich war gemeint. Gedichte“ (1987). Es gibt kaum Forschungsliteratur. Das Dokumentationsarchiv des SWF und das Stadtarchiv boten wichtige Quellen, berichtet Hack-Molitor. Dort fand sie Beiträge Paepckes, die sie für den Rundfunk und für Zeitschriften zwischen den Fünfziger- und Achtzigerjahren verfasste, und Interviews etwa mit dem Freiburger Historiker Heiko Haumann.
Hack-Molitor war verblüfft darüber, dass Paepcke selbst in Karlsruhe, wo sie lange lebte, kaum noch präsent war. Allein in Freiburg wurde Lotte Paepcke beachtet. 1988 verlieh ihr die Stadt den Reinhold-Schneider-Preis. Zehn Jahre später erhielt sie den renommierten Johann-Peter-Hebel-Preis. 2004 wurde in Stegen ein Stolperstein gesetzt, der an ihre Rettung im Kloster erinnert. Im Stadtteil Rieselfeld wurde eine Straße nach ihr benannt. Und seit diesem Jahr vergibt die Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit Freiburg den Lotte-Paepcke-Preis an junge Menschen, die ein Zeichen gegen Antisemitismus setzen. Schüler des Deutsch-Französischen Gymnasiums in Freiburg erhielten den ersten Preis für ihre Stadtführungen mit Fokus auf die jüdische Geschichte.
Lotte Paepckes Schriften zeugen von einem gelebten Humanismus, schreibt Hack-Molitor im letzten Kapitel. „In Zeiten wachsenden Antisemitismus sind sie wichtig und aktuell, Neuauflagen wären wünschenswert“. Bis dahin, falls es überhaupt dazu kommt, kann man Lotte Paepckes Leben, ihr Wirken und ihre Werke durch die neue, sehr lesenswerte Biografie kennenlernen oder wiederentdecken.
Die Buchpremiere mit der Autorin Gisela Hack-Molitor, der Leiterin des Freiburger NS-Dokumentationszentrums Julia Wolrab und Christoph Ebner vom SWR wurde als Radiosendung aufgezeichnet und ist online abrufbar. Auf der Webseite des SWR gibt es ebenfalls einen siebenminütigen Film über Lotte Paepcke, gedreht 1992 von Michael Hertle.
Das Buch „Lotte Paepcke. Es wurde nicht wieder gut“ hat 180 Seiten und ist im lokalen Buchhandel erhältlich.