Höher, schneller, weiter, kaputt: Führungskräfte sehen sich oft hohen Anforderungen ausgesetzt. Was sie tun können, um daran nicht zu zerbrechen und was hilft, wenn es doch zu spät ist.
VON JULIA DONÁTH-KNEER
Eines Morgens, nach einer weiteren seiner vielen schlaflosen Nächte, wusste Tim Lexus: So, wie es jetzt ist, kann es unmöglich weitergehen. Tim Lexus, der in Wirklichkeit anders heißt, war an dem Punkt in seiner Karriere angekommen, an dem seine Flamme erloschen ist. Mit dem Schlaf war auch der Elan gewichen. Er hatte innerhalb kurzer Zeit zwei Firmen gekauft und zu einer zusammenlegen wollen. „Ich habe mich seit der zweiten Übernahme aufgerieben, weil ich versucht habe, es allen recht zu machen. Und dabei habe ich mich selbst komplett vergessen“, erzählt der 35-Jährige. Er ist jung, er ist fit, hat Freunde, Hobbys, eine Partnerin. Doch damals blieb neben der Arbeit kein Raum mehr für irgendetwas anderes. „Mein ganzes Leben war von morgens bis abends strukturiert. Ich hatte einen Termin nach dem anderen. Persönlich, per Videocall, am Telefon. Dazu die Mails, Whatsapps, Notizen. Mittags Businesslunch, abends Geschäftstermin. Ganz normaler Unternehmeralltag.“ Bis zu dem Zeitpunkt, an dem nichts mehr ging. „Sobald irgendetwas Unvorhergesehenes geschehen ist, und das passiert im Daily Business ja häufiger, ist alles wie ein Kartenhaus über mir zusammengebrochen.“
Lexus flieht sich zunächst in den Sport, trainiert immer verbissener. Heute weiß er, warum: „Ich habe die extreme körperliche Belastung gesucht, um auf diesem Weg geistige Entlastung zu schaffen. Nur: Das Kernproblem löst sich damit nicht.“ Erst als ein Nervenschaden im Bein ihn stoppt, horcht er auf. „Mein Orthopäde fand klare Worte. Er sagte, dass die Entzündung nur ein körperliches Signal sei, der Grund dafür aber woanders liege.“ Also zieht Tim Lexus die Reißleine. Er nimmt sich vier Wochen Auszeit, die mit einer fünftägigen Fastenkur beginnt. Danach: Psychotherapie und Physiotherapie. Er arbeitet mit einer Psychologin und einem Coach, geht zur Akupunktur und zur Ernährungsberatung. Und er geht offen damit um. „Ich habe meinen Mitarbeitenden, Geschäftspartnern und -partnerinnen sowie dem Kundenstamm gesagt, warum ich für vier Wochen verschwinde“, erzählt er.
Waldbaden und Kreativtherapie
„Es ist nie zu spät, sich um die eigene psychische Gesundheit zu kümmern“, sagt Andreas Wahl-Kordon, ärztlicher Direktor der Oberberg Fachklinik Schwarzwald in Hornberg. Die Privatklinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie liegt auf einer Anhöhe im Schwarzwald, dort wo die Häuser weniger, die Straßen kurviger, die Wälder dichter werden. Die Klinik wurde 1985 gegründet und ist damit die älteste der mittlerweile 30 Fach- und Tageskliniken der Oberberg Gruppe, die ihren Hauptsitz in Berlin hat. Die Krankheitsbilder decken ein weites Spektrum ab: „Wir behandeln affektive Störungen, Depressionen, ausgeprägten Burnout, Abhängigkeiten, Angststörungen“, zählt Psychiater Wahl-Kordon auf. Der ursprüngliche Gründer der Einrichtung war ein selbst betroffener Arzt, der eine Privatklinik für Selbstständige, Unternehmer und Unternehmerinnen schaffen wollte. Bis heute machen sie einen Großteil des Klientels aus, im Schnitt sind etwa 20 Prozent der Patienten Ärzte und Ärztinnen.
Dennoch: „Prinzipiell kann eine psychische Erkrankung jeden treffen. Das hat mit Veranlagung zu tun und mit psychosozialen Belastungsfaktoren“, erklärt Wahl-Kordon. Meist ist es ein ganzes Sammelsurium aus Überbelastung, Stress und fehlendem Ausgleich in Form von Schlaf und Sport. Wenn dann noch ein Konflikt auftritt, etwa eine Trennung, ein Trauer- oder Pflegefall in der Familie, kann das der berühmte Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringt.
Es gibt Menschen, die damit besser umgehen als andere. Das hat viel mit Resilienz zu tun, also der eigenen Widerstandsfähigkeit. „Man kommt dann trotzdem in eine Krise, aber auch schneller wieder heraus“, erklärt Andreas Wahl-Kordon. Für die, die das ohne fremde Hilfe nicht schaffen, sind Kliniken wie die Oberberg Klinik eine Anlaufstelle. Im Schnitt bleiben die Patienten und Patientinnen sechs Wochen in stationärer Behandlung.
Führung kann auch erschöpfend sein. Wer die Karriereleiter immer so weit nach oben steigt, bis er es gerade noch aushält, endet nicht selten in einer Situation permanenter Überforderung.
In Hornberg wird mit Einzel- und Gruppenpsychotherapie sowie mit Kreativ-, Körper- und Bewegungstherapie gearbeitet. Dahinter steckt genau das, was man sich vorstellt: Töpfern, Malen, Yoga, Waldbaden. Insgesamt kommt man in der Oberberg Klinik Schwarzwald auf 23 bis 25 Therapiestunden die Woche. In der Freizeit sind Tischtennis, Gesellschaftsspiele, Billard, Sauna, Puzzle und Training im hauseigenen Fitnessstudio möglich. Rund 100 Beschäftigte und 60 Plätze gibt es in Hornberg.
Wasser unterm Kiel
Claas Lahmann, ärztlicher Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Uniklinik Freiburg, forscht seit vielen Jahren zur psychischen Gesundheit im beruflichen Kontext. „Studien zeigen, dass die mittleren Führungsebenen gesundheitlich stärker gefährdet und psychisch stärker belastet sind als höhere Ebenen“, erklärt der 48-Jährige. „Das liegt vor allem an der höheren Autonomie, die Menschen in Spitzenpositionen haben, während sich die in sogenannten Sandwichpositionen nach unten und nach oben orientieren müssen.“ Man könnte also sagen: Je autonomer gearbeitet werden kann, desto besser für die Gesundheit.
Führung kann aber auch erschöpfend sein. Wer die Karriereleiter immer so weit nach oben steigt, bis er es gerade noch aushält, endet nicht selten in einer Situation permanenter Überforderung. „Ich rate meinen Patienten häufig: Man braucht noch etwas Wasser unterm Kiel, damit man nicht das Gefühl hat, immer nur Vollgas geben zu müssen“, sagt Lahmann.
Es gibt noch weitere Risikofaktoren, die man im Auge behalten sollte. Einer davon: Wer andere Lebensbereiche vernachlässigt, um sich komplett auf die Arbeit zu fokussieren, bekommt spätestens ein Problem, wenn dort etwas schiefläuft. „Dann bricht alles weg, nicht nur der Job. Sondern das ganze Leben. Das ist das Risiko, wenn die Führung nahezu alle Lebensenergie und -zeit absorbiert“, betont Lahmann. Es sei daher essenziell, nicht alles auf eine Karte zu setzen und soziale Kontakte auch außerhalb des beruflichen Kontextes zu pflegen, die weder zielorientiert sind noch auf Konkurrenz basieren. „Vieles weist daraufhin, dass Führungskräfte, die sich über ihre Arbeit hinaus engagieren – sei es karitativ oder im Sportverein – weniger Risikofaktoren für psychische Erkrankungen haben“, erklärt Psychiater Lahmann. Es muss möglich sein, Menschen um sich herum zu haben, bei denen man nicht CEO ist, sondern „der Bernd aus dem Tischtennis“.
Coaching für Führungskräfte
„Häufig fehlt in Spitzenpositionen der kommunikative und soziale Resonanzraum, weil man von den Menschen um sich herum keine authentischen Rückmeldungen mehr bekommt“, sagt Claas Lahmann. Das kann man innerhalb der Firmen lösen, indem man unternehmensinterne Netzwerke initiiert, in denen sich Vorstandmitglieder untereinander austauschen oder man baut extern Peergroups für Unternehmer auf. Hilfe bieten auch Coaches an.
Uwe Kowalzik aus Freiburg zum Beispiel. Der 67-jährige Coach hat sich auf Unternehmens- und Organisationentwicklung spezialisiert und arbeitet seit über 40 Jahren mit Männern und Frauen in Führungspositionen. Sehr häufig mit denen, die in der Hierarchie allein an der Spitze stehen. „Wenn sie zu mir kommen, entsteht kein Abhängigkeitsverhältnis, wie sie es im Job permanent gewöhnt sind, sondern ein Gespräch auf Augenhöhe.“ Er sei kein Therapeut, sondern ein Sparringspartner, jemand, mit dem man Dinge anschaut, die es zu reflektieren gilt und die man mit den Mitarbeitenden eben nicht besprechen kann. Die Verschwiegenheitspflicht gelte aber auch bei ihm. „Das Unternehmerleben ist fürchterlich vereinnahmend“, sagt Kowalzik, der auch Seminare für Führungskräfteweiterbildung und Personalentwicklung anbietet. „Viele kämpfen mit Rivalitäten, Konkurrenz, Druck von außen und innen.“ Manches klingt vielleicht banal, ist aber so wichtig: Abstand nehmen, Pausen machen, delegieren können. „Vor allem letzteres ist eine der schwersten Aufgaben“, sagt Kowalzik. „Es geht nicht darum, einzelne Projekte oder Aufträge abzuschieben, sondern ganze Verantwortungsbereiche abzugeben. Das trauen sich viele aber nicht.“
„Ich musste mich von dem lächerlichen Anspruch lösen, dass ich derjenige bin, der immer am längsten arbeiten muss.“
Tim Lexus, Unternehmer
Genau das hat Tim Lexus schließlich getan. „Ich musste mich von dem lächerlichen Anspruch lösen, dass ich derjenige bin, der immer am längsten arbeiten muss“, sagt der 35-jährige Unternehmer heute. „Während meiner Auszeit hat mir mein Team bewiesen, dass es auch ohne mich geht. Ich habe gelernt: Vieles, worüber ich mir zuvor Sorgen gemacht habe, war ungerechtfertigt.“
Neulich rutschte er zurück in den Jobstrudel, merkte, wie er wieder den Boden zu verlieren drohte. „Ich habe dann ein Geschäftsessen abgesagt mit der Begründung, dass es nichts Dringendes sei, es aber für mich gerade zu viel wird und ich das nicht packe“, erzählt er. „Das Erstaunliche: Mein Geschäftspartner war erleichtert, ihm ging es genauso. Er hatte sich nur nicht getraut, es auszusprechen.“