Im deutschen Gesundheitssektor fehlt es heute schon an Fachpersonal. Durch den demografischen Wandel wächst der Bedarf zukünftig. Ein Ansatz ist die Integration von Pflegekräften, Ärztinnen und Ärzten aus dem Ausland. Zu Besuch bei zwei Institutionen, die die Integration vorantreiben: das Welcome Center am Ortenau Klinikum und die Freiburg International Academy.
VON CHRISTINE WEIS
500.000 Pflegekräfte werden laut dem Pflegereport der Bertelsmann Stiftung im Jahr 2030 in Deutschland fehlen. Personalnot ist eines der größten Probleme in der Branche. Aktuell rund 90 offene Stellen hat das Ortenau Klinikum in dem Bereich. Zwölf Initiativbewerbungen von Menschen aus dem Ausland liegen beim Integrationsbeauftragten Markus Bossong auf dem Tisch. Bald sollen es mehr werden, dafür sorgt das neue Welcome Center. Pflege-Vorständin Kathleen Messer setzt große Hoffnung in den Aufbau dieses neuen Bereichs. Noch steht das Ortenau Klinikum mit dem Integrationsmanagement für ausländische Pflegekräfte am Anfang. Markus Bossong sowie eine Kollegin sind gerade mal zu zweit, doch man wolle auf mindestens acht Beschäftigte anwachsen, berichten die beiden bei einem Gespräch Ende Januar vor Ort. Das Team soll einmal das komplette Recruiting übernehmen und sich um die berufliche sowie soziale Integration der Angeworbenen kümmern.
„Rassismus gibt es bei uns am Klinikum nicht. Das gilt für die Belegschaft wie auch für die Patienten.“
Kathleen Messer, Pflege-Vorständin am ortenau klinikum
„Die Akquise von Fachkräften aus dem Ausland ist für uns kein neues Thema. Die Vermittlung übernehmen bisher Agenturen in den Herkunftsländern. Das nehmen wir jetzt selbst in die Hand“, sagt Kathleen Messer. „Unser Ziel ist es, in zwei Jahren so gut aufgestellt zu sein, dass wir auf die Dienste von Agenturen verzichten können.“ Als Pflegevorständin ist die 43-Jährige für über 2000 Mitarbeitende im Klinikverbund mit den Krankenhäusern in Achern, Lahr, Offenburg und Wolfach verantwortlich.
In den vergangenen Jahren kamen Frauen und Männer aus Bosnien-Herzegowina, Indien, Mexiko, Mazedonien, Philippinen, Serbien, Slowenien, Tunesien oder der Türkei ans Klinikum. Waren es bislang pro Jahr zwischen 10 und 20 ausländische Fachkräfte und sollen es künftig 100 sein. Was die Integration in den Arbeitsalltag betrifft, sei man bereits sehr gut aufgestellt. Auf den Stationen gibt es Integrationsbeauftragte und Praxisanleiter, die sich um Einarbeitung und Orientierung kümmern.
„Wenn wir die Menschen langfristig binden wollen, brauchen sie ein gutes soziales Umfeld mit Freunden und Familie. Die Ortenau soll für sie Heimat sein.“
Markus Bossong, Integrationsbeauftragter Ortenau Klinikum
„Das berufliche Onboarding reicht bei weitem nicht aus“, sagt Markus Bossong. „Wenn wir die Menschen langfristig binden wollen, brauchen sie ein gutes soziales Umfeld mit Freunden und Familie. Die Ortenau soll für sie Heimat sein.“ Dazu zähle auch die Anbindung an Vereine und nachbarschaftlicher Kontakt. „Die soziokulturelle Integration ist unsere Kernaufgabe. Wir zählen dabei auch auf Unterstützung von ehrenamtlichen Helfern und Sozialarbeitern in den Kommunen“, erläutert Bossong. Und Kathleen Messer ergänzt: „Für diesen Bereich werden wir die Stelle eines Culture-Scout ausschreiben.“
Bürokratie bremst Integration
„Man könnte mehr Energie auf das Soziale legen, wenn die Bürokratie vereinfacht und die Abwicklung etwa von Visa und Arbeitserlaubnis zügiger voranginge“, beklagt Markus Bossong. Teils seien mehrere Behörden für ein und dasselbe Verfahren zuständig. Vorgänge werden mehrfach an unterschiedlichen Stellen bearbeitet, die Ämter seien schlecht vernetzt, oft mangele es an der Digitalisierung.“ Der 61-Jährige ist seit Oktober Integrationsbeauftragter, davor war er 30 Jahre Pflegedirektor am Ortenau Klinikum Offenburg-Kehl. Die Initiativbewerbungen aus dem Ausland häufen sich. Für Bossong ein Zeichen, dass das Ortenau Klinikum als attraktiver Arbeitgeber gilt. „Es spricht sich rum, dass es den Menschen hier gefällt und viele der Mitarbeitenden empfehlen uns weiter.“
„Rassismus gibt es bei uns am Klinikum nicht. Das gilt für die Belegschaft wie auch für die Patienten“, sagt die Pflegevorständin. Die ausländischen Mitarbeitenden seien willkommen. Mehr noch eine Bereicherung – fachlich und menschlich. Außerhalb der Klinik komme es dagegen schon mal zu Diskriminierungen, das will Markus Bossong nicht verschweigen und fordert jeden auf, Zivilcourage zu zeigen, wenn man einen Vorfall beobachte: „Wir sind eine multikulturelle Gesellschaft und werden noch bunter, das ist gut so“.
Freiburg International Academy: Sprache ist der Schlüssel zur Integration
Seine Eltern und fünf Schwestern weinten, als Nabeel Farhan im Dezember 1996 in Mekka in ein Flugzeug nach Frankfurt stieg. Farhan war 17 Jahre alt und freute sich darauf, in Deutschland zum ersten Mal Schnee zu erleben. Die Ankunft am Frankfurter Flughafen war jedoch ernüchternd – ein Kulturschock, wie er bei einem Treffen im Januar berichtete. Ursprünglich plante er, nur für sein Medizinstudium in Deutschland zu bleiben und danach in seine Heimat Saudi-Arabien zurückzukehren. Doch es kam anders – er blieb. Heute ist Nabeel Farhan Professor für Physician Assistance, promovierter Facharzt für Neurochirurgie, Master of Medical Education sowie Gründer und Inhaber der Freiburg International Academy (FIA). In dieser Funktion hat er seit 2013 rund 7000 Ärztinnen und Ärzten aus 140 Staaten, darunter Burkina Faso, Ghana, Iran, Russland, Saudi-Arabien, Syrien und Tunesien, geholfen, in Deutschland beruflich Fuß zu fassen. Gerade startet er ein Projekt, das 20 afghanischen Ärztinnen die Möglichkeit gibt, nach Deutschland auszureisen. Seit der Machtübernahme der Taliban im Jahr 2021 sind Frauenrechte so gut wie nicht mehr existent.
„Wir begleiten Ärzte unter anderem aus Krisen- und Kriegsgebieten bei ihrem beruflichen Start in Deutschland.”
Nabeel Farhan, Professor für Physician Assistance
„Wir begleiten Ärzte unter anderem aus Krisen- und Kriegsgebieten bei ihrem beruflichen Start in Deutschland“, erklärte Farhan den Schwerpunkt der FIA. Auf die Frage nach seiner Motivation antwortet der 44-Jährige: „Ich helfe gerne Menschen, deshalb bin ich Arzt geworden.“ Und er betont, dass diese Maxime sich nicht nur auf den Hippokratischen Eid beziehe. „Während meiner Facharztweiterbildung am Universitätsklinikum Freiburg baten mich viele ausländische Gastärzte um Unterstützung.“ Sie hatten Schwierigkeiten mit dem neuen Umfeld, kulturellen Gepflogenheiten, Abläufen im Klinikalltag und der Sprache. Farhan kannte diese Probleme aus eigener Erfahrung und empfand es als seine Pflicht, den Kolleginnen und Kollegen unter die Arme zu greifen. Neben fachlichen Sprachkenntnissen und Alltagstipps vermittelte er ihnen nonverbale Kommunikationsformen. „Viele konzentrierten sich aufgrund ungenügender Deutschkenntnisse ausschließlich auf die sprachliche Verständigung und achteten wenig auf Körperhaltung, Mimik und Gestik.“
Was als kollegiales Ehrenamt begann, entwickelte sich in Zusammenarbeit mit der Klinik und dem Gründerbüro der Universität Freiburg im Jahr 2013 erstmal zum Verein und letztlich zur gemeinnützigen GmbH. Die Akademie organisiert jährlich rund 150 Kurse an den Standorten Freiburg, Essen, Frankfurt, Hannover, Heidelberg und Mainz. Inhaltlich geht es um Allgemeinsprache sowie Fachsprache und -kenntnisse und richtet sich an männliche wie weibliche internationale Ärzte, Zahnärzte und Apotheker. Demnächst werden auch Schulungen für Pflegekräfte etabliert. Derzeit sind 250 Mitarbeitende und Dozierende bei der FIA beschäftigt.
Verfahren beschleunigen
2013 wurde ein von der FIA konzipierter Patientenkommunikationstest vom baden-württembergischen Landesprüfungsamt verpflichtend eingeführt. Die weiteren Bundesländer zogen nach. Mittlerweile wird der Test nicht nur von der FIA angeboten, sondern auch von der zuständigen Landesärztekammer. Das von Farhan einwickelte Schulungskonzept beinhaltet beispielsweise mit Schauspielpatienten simulierte Anamnesegespräche. „Durch unsere gezielte Vorbereitung ausländischer Ärzte auf die Kenntnisprüfungen hat sich die Durchfallquote enorm verbessert“, sagt der Neurochirurg. Bestanden 2011 nur etwa 30 Prozent diese Prüfung, sind es heute bundesweit über 90 Prozent. Mit den bestandenen Tests erhalten die Medizinerinnen und Mediziner die uneingeschränkte Berufserlaubnis (Approbation). Das gesamte Verfahren der Berufsanerkennung dauert zwischen 12 und 18 Monaten. Das ist zu lange, urteilt Farhan. Die Prozesse sollten unbürokratischer und schneller sein.
Um den Fachkräftemangel auszugleichen, ist Zuwanderung nur ein Baustein. „Denn es kann keine Lösung sein, dass Ärzte ihre Herkunftsländer verlassen, obwohl sie dort gebraucht werden.“ Mehr Studienplätze und Digitalisierung seien notwendig. Zusammen mit der Lebenswissenschaftlichen Fakultät der Universität Siegen begleitet Farhan als Studienarzt die Projekte der „Digitalen Modellregion Gesundheit Dreiländereck“. Das Dreiländereck bilden die benachbarten Bundesländer Rheinland-Pfalz, Hessen und Nordrhein-Westfalen. Die Idee ist, dass Patienten ihre Vitaldaten selbst messen und digital übermitteln, um Hausbesuche und Praxisbesuche zu minimieren, besonders in ländlichen Gebieten mit Ärztemangel.
Mehr Willkommenskultur
Besorgt beobachtet Farhan rechtsextreme ausländerfeindliche Tendenzen in Deutschland. „Die Welt ist durch Internet und soziale Medien ein Dorf. Was hier gesagt wird, hört man überall.“ Deutschland verliere durch den Rechtsruck an internationalem Ansehen, gerade bei qualifizierten Fachkräften und Akademikern. „Die Willkommenskultur ist verbesserungswürdig, vor allem in den ostdeutschen Bundesländern“, sagt Farhan und berichtet, dass er die FIA-Standorte Jena und Dresden geschlossen habe. Die Bereitschaft, ausländische Fachkräfte zu integrieren, sei dort schwieriger als etwa in Freiburg. „Wir setzen mit den positiven Erfolgsgeschichten unserer Absolventen ein Zeichen gegen das negative Bild.“ Die Statements sind auf Instagram, Youtube und der Website abrufbar.
Farhan erzählt, wie schmerzhaft es für ihn war, als ein Patient sich weigerte, von ihm als „Ausländer“ untersucht zu werden. Zu diesem Zeitpunkt lebte er bereits länger in Deutschland als in Saudi-Arabien. Dennoch ließ er sich davon nicht entmutigen und blieb. Seine Familie in Mekka hofft aber immer noch, dass er irgendwann wiederkommt, um zu bleiben.