Mehr als Rampe, Aufzug, Blindenleitsystem und Behindertenklo. Barrierefreiheit ist keine Option unter vielen. Sie ist auch nicht der Wunsch einer kleinen Gruppe – sie ist ein verbrieftes Recht: Allen Menschen muss Teilhabe am öffentlichen Leben möglich sein.
Text: Julia Donáth-Kneer
Der Freiburger Münsterplatz ist ein Ort, den Josef Feißt normalerweise meidet. Zu rumpelig wegen des Kopfsteinpflasters, zu uneben – einfach zu viele Dinge, die ihn behindern. Denn Josef Feißt sitzt im Rollstuhl, er wurde als Frühchen geboren, konnte nie wirklich laufen. „Das war noch nicht fertig, das Kind“, sagt er, wenn er über seine Behinderung spricht. Josef Feißt ist ansonsten fit, spielt Rollstuhlbasketball – „das ist wie echtes Basketball, nur ohne Hüpfen“ –, kann seine Hände und Arme einsetzen, zur Not sogar ein paar Schritte laufen. Im Alltag ist er auf den Rollstuhl angewiesen. „Die meisten Menschen denken beim Stichwort Barrierefreiheit erstmal an Treppen. Aber die Liste der Dinge, die im täglichen Leben nerven, ist viel länger“, sagt der 38-Jährige.
Öffentlicher Nahverkehr etwa. Der Softwarespezialist arbeitet als Mentor für digitale Prozesse bei der IT-Beratungsfirma Ignition Teams in Waldkirch und wohnt in Niederschopfheim. Für ihn undenkbar, mit der Bahn zu pendeln. „Der ÖPNV ist eine Challenge: Du weißt nie, was heute passiert“, beschreibt Feißt den Kampf mit Bus und Bahn. „Ist der Aufzug am Bahnsteig kaputt, nervt das alle. Mich halt noch ein bisschen mehr.“ Defekte Aufzüge, Höhenunterschiede zwischen Bahnsteigkante und Bahn, knappe Anschlüsse, fehlende Rampen, zu wenig barrierefreien Bus- oder Straßenbahnhaltestellen – für mobilitätseingeschränkte Menschen gleicht die Fahrt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln einem Hindernisparcours. Und das selbst dann, wenn alles regulär läuft. Kommen noch Gleiswechsel, Zugausfälle, Schienenersatzverkehr hinzu, kann das für Menschen mit Behinderung ein K.o.-Kriterium sein. „Ich muss meine Reisen sowieso sehr genau planen. Aber sobald etwas außerplanmäßig läuft, bin ich aufgeschmissen“, sagt Josef Feißt. „Zum Beispiel, wenn der Schienenersatzverkehr keine barrierefreien Angebote berücksichtigt. Dann kommt halt statt dem Stadtbus ein Überlandbus – und ich einfach nicht mehr weg.“
„Es reicht noch nicht“
Im Freiburger Stadtgebiet hat die VAG nach wie vor drei Straßenbahnen ohne Niederflurabteil in Betrieb. Ein Ärgernis für eine deutlich größere Zielgruppe als diejenigen, die im Rollstuhl sitzen: Eltern mit Kinderwagen, ältere Menschen, Leute auf Krücken oder mit Rollatoren. „Wir sind mit dem zuständigen Garten- und Tiefbauamt regelmäßig im Austausch, aber aufgrund nicht ausreichender finanzieller Ressourcen sind noch immer viele Bushaltestellen nicht barrierefrei umgestaltet“, sagt Daniela Schmid. Sie ist die Vorsitzende des Behindertenbeirats, der in Freiburg die Stadtverwaltung und den Gemeinderat berät. Seit 15 Jahren setzt sich Schmid für die Interessen von Menschen mit Behinderung, für mehr Barrierefreiheit und Inklusion ein. 21 gewählte Mitglieder arbeiten für den Beirat, alle ehrenamtlich und die meisten selbst betroffen. „Das ist einerseits gut, weil wir wissen, wovon wir sprechen. Andererseits haben wir nur begrenzte Kapazitäten“, gibt Schmid zu bedenken. „Das Leben mit Behinderung ist insgesamt zeitaufwendiger und anstrengender.“
Daniela Schmid ist sehbehindert, sie kann sich zwar im Alltag ohne Stock und Hund bewegen, ist aber auf die barrierefreie Gestaltung des öffentlichen Raums angewiesen. „Es passiert schon viel in Freiburg“, sagt Schmid. „Aber es reicht bei weitem noch nicht aus.“ Wir treffen uns in der Innenstadt, wo sie auf verschiedene Besonderheiten hinweist, die einem Menschen, der ohne Behinderung durchs Leben geht, vermutlich nicht mal auffallen. Die sogenannten Doppelquerungen an Straßenbahnschienen und Bürgersteigen zum Beispiel – doppelt, weil es für unterschiedliche Behinderungen unterschiedliche Anforderungen gibt: Einerseits für Rollstuhlfahrerinnen und -fahrer sowie für Menschen mit Rollatoren, die möglichst flache Bordsteinkanten brauchen, andererseits für Blinde und Sehbehinderte, die auf die Kante als Orientierungshilfe angewiesen sind.
„Es hat recht lange gedauert, bis wir uns darauf einigen konnten“, erinnert sich Ramon Kathrein. Der 42-jährige Stadtrat, der derzeit für die Liste für Teilhabe und Inklusion bei der anstehenden Kommunalwahl im Juni kandidiert, ist von Geburt an blind. Im Gegensatz zu Daniela Schmid kann er überhaupt nichts sehen, bewegt sich mit Stock und Blindenhund. An vielen Orten findet er sich ohne fremde Hilfe nicht zurecht. „Der Schwabentorring ist für mich nicht passierbar“, berichtet er. „Wir bauen derzeit die Ampelanlagen aus, sind aber momentan bei nur rund 30 Prozent, die blindenfreundlich sind.“ Für Menschen wie Kathrein sind Ampeln, die weder vibrieren noch piepsen, keine Option, eine unabhängige Mobilität also unmöglich. „Ohne die Hilfe einer sehenden Person kann ich zum Beispiel nicht ins Atlantik in der Kartäuserstraße gehen“, sagt Ramon Kathrein, der bis 2019 ebenfalls im Behindertenbeirat saß, bevor er in den Gemeinderat gewählt wurde. „Im Behindertenbeirat konnten wir viele Pflöcke reinschlagen, Klinken putzen und immer wieder auf uns aufmerksam machen“, sagt er. „Im Gemeinderat haben wir es in der Hand, Mehrheiten zu finden, um Gelder zur Verfügung zu stellen und verfügen andererseits über eine Kontrollfunktion, damit es auch weitergeht.“
Zu wenig Kontrolle
Es gibt viele Dinge, die behinderten Menschen helfen, aber mindestens ebenso viele, die ihnen das Leben schwer machen. Das ist weder böse Absicht noch Ignoranz – es ist liegt einfach daran, dass Männer und Frauen, die nicht von Einschränkungen betroffen sind und auch niemanden in ihrem direkten Umfeld haben, so weit nicht denken. Daniela Schmid zeigt uns auf dem Rundgang die Orte der Altstadt, an denen die berollbaren Pflastersteine, die Menschen mit Behinderung eigentlich den Weg durch die Stadt erleichtern sollen, mit Schildern, Stühlen und Werbetafeln der Restaurants und Geschäfte vollgestellt sind. „Daran kommt keiner vorbei – weder jemand im Rollstuhl noch Menschen mit Blindenstock“, sagt Schmid.
Die Turmstraße oder die Conrad-Gröber-Straße seien Positivbeispiele der Freiburger Altstadt, erklärt die Fachfrau. Hier gibt es berollbare Gassen – eine Spur abgeflachter Pflastersteine –, die barrierefreien Zugang ermöglichen. Schmid bewegt sich vorsichtig, aber ohne Hilfsmittel durch die Stadt. Sie mag den Wochen- und den Weihnachtsmarkt, auch wenn es anstrengend sei. „Aber ich kenne viele Menschen mit Behinderung, die gar nicht mehr in die Innenstadt gehen, weil es ihnen zu mühsam ist. Das ist meiner Meinung nach nicht akzeptabel“, sagt sie. Dass viele immer den Münsterplatz als Leuchtturmprojekt nennen würden, geht ihr nicht weit genug. „Wir haben noch viel mehr Themen in der Stadt. Ich will nicht nur auf den Münsterplatz oder den Augustinerplatz – der im Übrigen kein Stück besser ist. Ich will, dass sich jeder und jede in der gesamten Stadt, im ÖPNV, im öffentlichen Raum barrierefrei bewegen kann.“
Klos im Keller
Der Behindertenbeirat beschäftigt sich unter anderem mit den Themen Bauen und Verkehr. „Kapazitäten für die Umsetzung von Barrierefreiheit in Restaurants und Einzelhandel bleiben leider nicht, weil das Gremium ausschließlich ehrenamtlich tätig ist“, sagt Schmid. Dabei wäre auch dort viel zu tun. „Manche Restaurants haben eine Tür, durch die ich zwar mit dem Rollstuhl reinkomme, aber drinnen geht es nicht weiter“, erzählt Josef Feißt. Ein Hauptproblem: fehlende Behindertentoiletten. Alexander Butz sitzt seit einem Autounfall im Jahr 2007 im Rollstuhl. Er ist Tetraplegiker, das heißt, seine Arme und Beine sind gelähmt. Immer, wenn er mit Freunden unterwegs ist, ärgert es ihn, dass sich die WCs in sehr vielen Restaurants und Bars im Keller befinden.
Der 39-Jährige gründete mit drei weiteren Männern und Frauen, ebenfalls alle Tetraplegiker, das Sportteam Dragons unter dem Dach des Vereins Ring der Körperbehinderten. Die Dragons spielen Rollstuhlrugby – einen Sport, der eigens für Tetraplegiker konzipiert wurde. Momentan spielen zwölf Leute im Team, die Mannschaft selbst in der zweiten Bundesliga, das Training findet wöchentlich statt. Der Austausch untereinander geht weit über normalen Spielfeld-Smalltalk hinaus. „Es ist ein Sport für Gleichgesinnte“, sagt Alexander Butz. „Wir haben alle dieselben Probleme, sprechen über Themen mit der Krankenkasse, über Schmerzen oder körperliche Beschwerden, die die Behinderung mit sich bringt.“ Alles Dinge, die ein gesunder Mensch nicht nachvollziehen kann – und die viel mehr bringen als körperliche Fitness. Butz hat den Sport schon in der Reha für sich entdeckt: „Das Selbstvertrauen, das ich auf dem Platz gewonnen habe, hilft mir auch im Alltag für meine Selbstständigkeit.“ Vieles kann er jedoch nicht selbst steuern. Vor allem die Suche nach einer geeigneten Wohnung gestaltete sich anfangs extrem schwierig.
Einige Neubauten werden als barrierefrei bezeichnet, was aber nicht automatisch heißt, dass sie rollstuhlgerecht sind. Breite Türen und Aufzüge bringen viel, wichtig sind aber auch bodentiefe Duschen und Kleinigkeiten, an die viele nicht denken, die aber einen extremen Unterschied machen, wenn man nicht laufen kann. Viel zu oft halten zum Beispiel Schwellen an Terrassentüren Rollstuhlfahrerinnen und -fahrer davon ab, den Balkon zu betreten. Bauen – es ist ein Thema, bei dem viel passiert, das aber sehr komplex ist. Auch, weil die Auflagen streng sind und die Ausführung kompliziert. Bei öffentlichen Gebäuden gelten andere Regeln als im Wohnungsbau, manches ist von Land zu Land, anderes je nach Gemeinde unterschiedlich. Stadtrat Ramon Kathrein erklärt dazu: „Mittlerweile wird zumindest vieles standardisiert mitgedacht, vor allem bei Neubauten.“ Das liegt auch daran, dass es kostengünstiger ist, barrierefreie Aspekte direkt einzupreisen als Gebäude im Nachhinein teuer umzubauen.
Josef Feißt zum Beispiel hat einen kleinen Aufzug zur Haustür bekommen, da der Zugang zu seinem Wohnhaus nicht barrierefrei war. Bezahlt hat die Aufrüstung die Agentur für Arbeit, damit er das Haus für den Job verlassen kann. „Ich finde, das sollte allerdings nicht der einzige Grund sein, dass ich nach draußen gehe“, witzelt der IT-ler.