In Bleichheim gibt es keinen Laden, kein Gasthaus und keine Grundschule mehr. Doch die Gemeinde mit knapp 700 Einwohnern hat andere Vorzüge, die das Leben auf dem Dorf attraktiv machen. Es gibt etwa mehr Vereinsmitglieder als Einwohner, neue Wohnformen und kreative Formate für ein soziales Miteinander. Ein Ortsbesuch.
Text: Christine Weis • Fotos: Jan Böttinger
Regine Glöckle war frisch im Amt als Ortsvorsteherin der kleinen Herbolzheimer Teilgemeinde Bleichheim, als die Ausschreibung für den Wettbewerb „Unser Dorf hat Zukunft“ vom Ministerium für den Ländlichen Raum Baden-Württemberg ins Rathaus flatterte. „Darin wurden genau die Fragen gestellt, die mich auch beschäftigt haben“, erinnert sich die 59-Jährige im Gespräch Ende August: Was macht das Dorf zukunftsfähig und lebenswert? Welche sozialen und kulturellen Angebote gibt es? Wie entwickeln sich Wirtschaftskraft und Baugestaltung? Regine Glöckle entschied sich gemeinsam mit dem Ortschaftsrat, an dem Wettbewerb teilzunehmen. Nicht die Aussicht auf eine Prämierung motivierte sie, sondern die Impulse und Potenziale, die in dem Prozess steckten.
Glöckle initiierte mit der „Redezeit“ ein neues Format, bei dem die Bürgerinnen und Bürger regelmäßig zu Gesprächen über ein bestimmtes Thema eingeladen werden. „Jung sein in Bleichheim?“ war die Fragestellung beim ersten Treffen. „Ich war positiv überrascht, wie groß das Interesse war; es kamen rund 25 überwiegend junge Menschen“, berichtet Regine Glöckle, die im Hauptberuf als Lehrkraft für elementare Musikpädagogik arbeitet. Ortsvorsteherin ist sie ehrenamtlich. Viele äußerten den Wunsch, in Bleichheim bleiben zu wollen, vorausgesetzt, es gäbe die Möglichkeit, zu bauen oder ein Haus zu kaufen.
Gut möglich, dass sich einige ihre Wünsche erfüllen können. Denn nach Jahrzehnten strikter Innerortsverdichtung ist ein Neubaugebiet unweit des Pfarrhofareals geplant. „Für eine positive Weiterentwicklung, auch im Hinblick auf sinkende Einwohnerzahlen in den letzten Jahren, ist das für unser Dorf wichtig“, so Glöckle. Bald soll es unterschiedliche Bauformen von Geschosswohnungsbau bis zum sogenannten Kleinsthaus geben, das dem Trend zur minimalistischen Wohnkultur entgegenkomme. Unter dem Slogan „Junges Wohnen“ entstehen zudem im historischen und verwaisten Pfarrhaus Wohnungen samt einem Gemeinschaftsraum in der Scheune. Ein weiteres Haus auf dem Pfarrhofareal wird die kirchliche Jugendgruppe dann weiterhin nutzen.
Zurück in die Heimat – Vorteile des Dorflebens
„Es ist notwendig, jungen Menschen Wohnraum zu bieten, der ihren Bedürfnissen entspricht, damit sie in der Region bleiben oder zurückkehren und hier sesshaft werden“, erklärt Regine Glöckle. Sie selbst ist ein Beispiel dafür: Aufgewachsen in Bleichheim, lebte sie mit ihrem Mann, der ebenfalls aus Bleichheim stammt, viele Jahre in Stuttgart. Die Verbindung zur Heimat riss nie ab. Beide kamen weiterhin regelmäßig zur Musikprobe am Freitagabend. Die Großstadt hätte viele Anreize wie Konzerte, kulturelle Veranstaltungen und gute Jobs geboten. Doch als ihr erstes Kind geboren wurde, standen sie vor neuen Herausforderungen: In Stuttgart waren die Mieten hoch, eine eigene Immobilie unerschwinglich und es fehlten familiäre Unterstützungsstrukturen. „Außerdem ist das Dorf ein Schutzraum für Kinder“, sagt Glöckle. Und so kehrten sie 1997 zurück.
„Es ist notwendig, jungen Menschen Wohnraum zu bieten, der ihren Bedürfnissen entspricht, damit sie in der Region bleiben oder zurückkehren und hier sesshaft werden.“
Regine Glöckle, ortsvorsteherin von Bleichheim
Die Coronapandemie war eine Trendwende: Plötzlich galt das Leben auf dem Land als Privileg. Die Nähe zur Natur, mehr Ruhe, mehr Platz zum Wohnen und fürs Homeoffice wurden als Vorzüge gegenüber dem urbanen Raum gesehen. Gerade der Lockdown ließ sich auf dem Land besser aushalten als in einer Stadtwohnung.
Nach Glöckles Auffassung gehen die Besonderheiten des Dorflebens jedoch weit darüber hinaus. Dazu gehören Zusammenhalt, Gemeinschaftsgefühl und soziales Miteinander. Besonders hebt sie das Vereinsleben in Bleichheim hervor: Der Turn- und Sportverein bietet etwa ein generationsübergreifendes Programm vom Kleinkinderturnen bis „Fit in die Rente“ oder Tischtennis auf Regionalliga-Niveau. Zudem gibt es den Musikverein, die Narrenzunft, die Feuerwehr und kirchliche Gruppen. Viele Mitglieder kommen aus umliegenden Ortschaften oder bleiben dem Verein auch nach einem Wegzug treu.
„Es ist uns wichtig, auch jene Menschen zu erreichen, die sich in keinem dieser Angebote engagieren möchten“, sagt Glöckle. Daher habe man offene, niedrigschwellige Formate eingeführt, wie die monatliche „Begegnung im Rathaus“. Daraus entwickelten sich Engagements von Bürgerinnen und Bürgern. So gibt es gemeinsames Stricken, ein offenes Bücherregal mit Lesetipps oder alle vier Wochen das „Z’ Mittag esse“ im ehemaligen Gasthof Rebstock.
Nahversorgung, Mobilität und sanfter Tourismus
Auch in Bleichheim sind die Herausforderungen der ländlichen Versorgung deutlich spürbar, insbesondere durch den eingeschränkten öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) und die Grundversorgung. Trotzdem bemühen sich die Ortsverwaltung und lokale Anbieter, beides zu verbessern. Zweimal pro Woche verkauft die Bäckerei Mutz aus Herbolzheim ihre Waren im Laden der ehemaligen Bäckerei. Einmal wöchentlich bietet Clemens Schätzle Fleisch- und Wurstwaren mit seinem Metzgerwagen an. Freitagvormittags fährt der Bürgerbus im stündlichen Turnus auf den Wochenmarkt nach Herbolzheim. Er hält an den beiden Mitfahrbänkle und ist kostenfrei. Der Bus kann auch „on-demand“ für Fahrten zu Arztterminen oder Schüler-Schwimmkursen genutzt werden. Trotz dieser Angebote bleibt die Abhängigkeit von privaten Fahrzeugen hoch. Ein Lichtblick ist die geplante Verbesserung des ÖPNV ab 2025: Die Busfrequenz soll verdoppelt werden, und die Linienbusse auch abends länger und am Wochenende fahren.
Bleichheim, eingebettet zwischen der Kirnburg und dem Aussíchtspunkt Prophet, ist von Weinhängen und Wald umgeben. Bis vor 50 Jahren war der Ort eigenständig, bevor er Teilgemeinde von Herbolzheim wurde. Lange galt Bleichheim als das Eldorado des Mühlsteinbaus, was der Burg auch den Namen gab: „Kirn“ oder „Kürn“ ist das mittelhochdeutsche Wort für Mühlstein.
Die Glöcklemühle aus dem 18. Jahrhundert war eine der letzten aktiven Mühlen. Vor acht Jahren kaufte das Ehepaar Martina und Ingo von Pflug das Gebäude samt acht Hektar großem Gelände. Sie bauen seitdem die alte Mühle zu einem Urlaubsdomizil mit acht Ferienwohnungen, Wohnmobilplätzen und kleinen Holzhäusern aus. Später soll es auch eine kleine Gastronomie geben. Der Betrieb startet im Frühjahr 2025. Die ruhige und idyllische Lage wird Touristen anziehen, die ein Faible für Natur haben und gerne wandern oder Fahrrad fahren, berichten die beiden, die auch selbst dort einziehen werden. „So kommt Wirtschaftskraft ins Dorf. Davon profitieren auch die bereits bestehenden Angebote wie beispielsweise der Weinverkauf und der Schaugarten Herrenmühle“, betont Regine Glöckle.
„Das Dorf ist mir wichtig. Es hat eine eigene Seele mit allen Variationen. Die geringe Einwohnerzahl schafft eine Atmosphäre von Vertrautheit und Intimität.“
Hansjörg Haas, Gartenauingenieur
Der 3000 Quadratmeter große Garten „Herrenmühle“ liegt unterhalb des Bleichheimer Schlosses aus dem 16. Jahrhundert. Die außergewöhnlich schöne Anlage ist das Werk von Gartenbauingenieur Hansjörg Haas, der sein Wissen über Pflanzen und Biodiversität in Büchern sowie bei Führungen durch den Garten weitergibt. Viele Besuchergruppen und Fachpublikum zieht es aus der ganzen Welt nach Bleichheim. Ab 2010 verwandelte er aus dem brachliegenden Gelände an der ehemaligen Mühle nach und nach eine grüne Oase mit vorwiegend Staudenbeeten und Bäumen. „Mich hat es von Freiamt runtergeschwemmt“, sagt er augenzwinkernd. Er habe hier den optimalen Platz für seine Pflanzenpassion und einen guten Ort zum Leben gefunden. „Das Dorf ist mir wichtig. Es hat eine eigene Seele mit allen Variationen. Die geringe Einwohnerzahl schafft eine Atmosphäre von Vertrautheit und Intimität.“ Gefragt, was das Dorfleben auszeichnet, antwortet er: „Es ist das, was die Menschen daraus machen. Viele hier sind aufgeschlossen, das gefällt mir.“
Nicht nur im Ort kommt an, was sich in Bleichheim tut. Im Landeswettbewerb „Unser Dorf hat Zukunft“ gewann Bleichheim 2021 auf Kreis- und ein Jahr später auch auf Landesebene eine Goldmedaille. In diesem Jahr hat die Gemeinde den Europäischen Dorferneuerungspreis 2024 in Silber erhalten. Das Motto war „Lust auf Zukunft“. Insgesamt hatten sich 21 Kommunen beteiligt. Sieger wurde die tschechische Gemeinde Kostelní Lhota aus der Region Mittelböhmen. Regine Glöckle reist zusammen mit dem Herbolzheimer Bürgermeister Thomas Gedemer Mitte September zur Preisverleihung nach Stadtschlainig in Österreich, dem Sieger des vormaligen Wettbewerbs. Viel wichtiger als das Abzeichen sind Glöckle die neuen Impulse, die sie mitbringen kann, von denen sich dann vielleicht auch einige in Bleichheim umsetzen lassen. Lust auf Zukunft hat die engagierte Ortsvorsteherin allemal.