In der von Massenfertigung geprägten Textilbranche ist der Maßanzug ein Luxuskleidungsstück, das sich heute nur noch wenige leisten. Schade, findet Dirk Frischauf, der die Lahrer Kleiderfabrik in dritter Generation leitet. Denn in einem wirklich gutsitzenden Anzug sieht jeder Mann einfach besser aus.
Text: Julia Donáth-Kneer
Das Schöne an einem Anzug, der nach individuellen Wünschen angefertigt wird: Es ist so gut wie alles möglich. Neulich habe sich ein Kunde das Trikot von FC-Bayern-München-Star Harry Kane als Innenfutter in den Anzug nähen lassen, erzählt Dirk Frischauf. Der 58-Jährige ist Inhaber der 1931 gegründeten Lahrer Kleiderfabrik. Sein Großvater kam als Produzent für Anzüge über Düsseldorf und Stuttgart nach Lahr, stieg in den 1950er-Jahren in das Unternehmen ein und blieb in der Geschäftsleitung, bis er weit über 90 Jahre alt war.
Früher hat die Kleiderfabrik vor allem Konfektionsanzüge produziert und an Herrenausstatter verkauft. „Diesen Beruf gibt es heute aber so gut wie nicht mehr“, sagt Frischauf, der die Geschäftsführung 1998 übernahm. Er selbst trägt täglich Anzug, Hemd und Krawatte, aber in den allermeisten Berufen ist das längst unüblich geworden. Ganz im Gegensatz zu früher. Da brauchten selbst die Menschen, die im Handwerk oder produzierenden Gewerbe arbeiteten, mindestens einen schicken Anzug für den Kirchgang oder sonstige Gelegenheiten.
Heute schlüpfen Männer manchmal bei der eigenen Hochzeit zum allerersten Mal überhaupt in einen Zwei- oder Dreiteiler. Bräutigame und alle anderen, die einen Anzug für eine besondere Gelegenheit brauchen, gehören zum Hauptklientel von Frischauf und seinem zwölfköpfigen Team. Neben dem Verkauf von Konfektionsware gibt es unter dem Markennamen Bonacelli eine eigene Kollektion sowie die Möglichkeit für einzelgefertigte Teile – die sogenannte Maßkonfektion.
Zur Einordnung: Bei der Maßkonfektion werden Anzüge anhand vorhandener Muster hergestellt und individuell angepasst, um dem jeweiligen Körpertyp zu entsprechen. Von Maßarbeit spricht man, wenn die Anzüge exklusiv entworfen werden. Das bedeutet, das Muster wird jedes Mal von Grund auf neu zugeschnitten. Das machen in Deutschland mittlerweile nur noch sehr wenige Herrenschneider. Echte Maßarbeit ist exklusiv und nie günstig. Bei rund 80 Stunden Schneiderhandarbeit beginnen die Preise bei etwa 4000 Euro. Je exklusiver der Stoff, desto teurer wird’s. Ein Beispiel: Die italienische Luxus-Maßschneiderei Kiton mit Sitz in Neapel fertigt jährlich 20.000 Anzüge, natürlich per Handarbeit. Sechs Wochen braucht es, um einen kompletten Anzug herzustellen. Die exklusivste Version: Aus der seltenen weißen Vicuña-Wolle produziert Kiton jährlich nur 19 Anzüge, preislich liegen diese bei etwa 45.000 Euro. Vom Firmengründer Ciro Paone stammt das Zitat: „Ein wahrer Gentleman wechselt seinen Anzug täglich, trägt ihn nie ohne Krawatte und besitzt ein Modell für jeden Anlass.“
Auf italienische und englische Stoffe aus edlen Webereien setzt auch Frischauf in Lahr. Er berichtet, dass es manch bekannte Weberei in Italien gibt, bei der man sich als Hersteller bewerben muss, um den Stoff überhaupt verarbeiten zu dürfen. Beim Familienunternehmen Loro Piana aus dem oberitalienischen Biella-Tal etwa stand er jahrelang regelmäßig auf der Matte, bis endlich die Zusage kam. Loro Piana, berühmt für seine Kaschmiranzüge, lässt unter anderem einen exklusiven Stoff, der aus der Faser von Lotusblüten gewonnen wird und früher ausschließlich buddhistischen Mönchen vorbehalten war, von traditionellen Seidenweberinnen in Myanmar anfertigen. Die Herstellung von einem Meter dieses Materials dauert eine ganze Woche. Ein maßgefertigtes Sakko aus einem solchen Stoff liegt bei mindestens 7000 Euro. Auch der belgische Edelschneider Scabal, bei dem Ex-US-Präsident Barack Obama einkaufen soll, hat die Webkunst perfektioniert. Die Stoffe dort können von Goldfäden oder kleinen Diamanten durchzogen sein. Für Außenstehende kaum sichtbar, für den Träger ein luxuriöses Highlight.
Der perfekte Sitz
Vier Schneiderinnen arbeiten in Lahr. Sie kümmern sich bei den einzelgefertigten Teilen, aber auch bei Konfektionsware, um den perfekten Sitz. Denn der ist entscheidend. „Ein guter Anzug betont und kaschiert gleichermaßen“, erklärt Dirk Frischauf. Er hatte lange ein Foto des ehemaligen Bundesinnenministeriums im Laden ausgestellt, erzählt der Unternehmer, weil es so gut zeige, was man alles falsch machen kann. Darauf: Horst Seehofer und sein ausschließlich männliches Team. Seehofer trägt auf der Aufnahme einen Anzug, dessen Schulterpartie so breit ist, dass der 1,93-Meter-Mann noch massiger aussieht. Sein nicht viel kleinerer Kollege hingegen wirkt gedrungen, weil seine Ärmel zu lang sind. „Das sind Fehler, die man häufig sieht“, sagt Frischauf. Deshalb sei das Vermessen und Anpassen auch so wichtig.
„Ein Sakko ist das komplizierte Kleidungsstück der Schneiderkunst“, erklärt der Profi. Selbst ein maschinell produziertes Teil dauert etwa 120 Minuten. Es muss an der Schulter gut sitzen, darf nicht zu weit abstehen, muss am Rücken glatt anliegen. Es darf nicht einengen, soll aber körpernah geschnitten sein. Frischauf und sein Team schauen sich neben Größe und Statur der Kunden auch die Körperhaltung an. Manches Mal kann durch einen geschickt eingenähten Ärmel eine hängende Schulter kaschiert werden. „Auch die Länge ist entscheidend“, sagt Frischauf. Wer lange Beine hat, ist mit einem länger geschnittenen Sakko besser bedient, „Sitzriesen“ hingegen sollten ein kürzeres tragen. Die Ärmel dürfen durchweg nicht zu groß sein, sonst wirkt jeder Mann gestaucht.
“Ein guter Anzug betont und kaschiert gleichermaßen.”
Dirk Frischauf
Generell soll man sich wohlfühlen. Kein Zuppeln, kein Ziepen, kein Zurechtziehen. „Ein guter Anzug macht viel mit dem eigenen Selbstvertrauen. Er schmiegt sich dem Körper an, folgt jeder Bewegung“, sagt Frischauf und schwört: „Jeder Mann, egal wie attraktiv er ist, sieht darin besser aus.“
Bei Maßarbeit geht es aber um mehr als um den perfekten Schnitt. Wer sich ein solches Teil leistet, kann es ganz und gar für sich selbst anpassen. Der Träger spürt es, einige sehen es – diskreter können Komfort und Luxus kaum sein. Man(n) kann sich Stoffe, Formen, Farben, Muster aussuchen. Manche wollen Zweireiher – die gibt es heute von der Stange kaum noch. Andere lieben besondere Reversformen. Zum Beispiel Ex-Trigema-Chef Wolfgang Grupp: Er lässt sich stets ein solch breites Revers schneidern, dass er sein Einstecktuch dort – statt wie üblich in der Brusttasche – tragen kann.
Was wenige wissen: Nur an Maßanzügen sind die Ärmelknöpflöcher wirklich knöpfbar. „Manche lassen absichtlich den untersten Knopf geöffnet“, sagt Dirk Frischauf. Es ist ein kleines Augenzwinkern für Insider. Gleiches gilt für Stickereien im Innenfutter oder besondere Extras am inneren Rückenteil. Es muss ja nicht gleich Harry Kane sein.