Volker Scheer legt eine Chronik der Tonwarenfabrik Ernst Kammüller sowie der Tonwerke Kandern vor. Das Werk dokumentiert nicht allein die Firmengeschichten, sondern auch die Biografien vieler Menschen aus der Markgräfler Kleinstadt.
Text: Christine Weis
Zweimal kämpft Volker Scheer während der Buchvorstellung im Kanderner Kommunalen Kino mit den Tränen, als er von zwei Menschen aus dem Zweiten Weltkrieg berichtet. „Liebe Eltern. Ich komme vielleicht wieder heim. Ich lebe in deutscher Gefangenschaft, arbeite in einer Ziegelei. Gesundheitlich geht es mir schlecht. Der eklige Tartar schlug mir auf das linke Ohr […]. Das Leben ist sonst gut.“ Dies schrieb der russische Zwangsarbeiter Pjotr Pawlow am 17. März 1942, seinem 22. Geburtstag, auf einen Dachziegel – in der Hoffnung, dass die Nachricht eines Tages seine Eltern erreicht. Der Brief kam jedoch nie bei den Adressaten an und wird heute im Heimat- und Keramikmuseum in Kandern aufbewahrt. Pjotr Pawlow gehörte zu den 30 Männern, die als Arbeitskommando vom Arbeitsamt Lörrach in die Tonwerke geschickt wurden, wie Scheer nachrecherchierte.
Ein weiteres Schicksal, verbunden mit einer bewegenden Nachricht, berührt den 84-jährigen Autor. „Es geht mir recht gut. Brief folgt. Herzliche Grüße, Euer Karlfrieder“, notierte der 20-jährige Karlfrieder Kammüller an der deutsch-sowjetischen Ostfront am 10. Januar 1944. Es war das Letzte, was seine Familie von ihm hörte, denn seitdem wurde er vermisst. „Sie waren noch nicht mal so alt, wie meine Enkel heute sind“, sagt Scheer ergriffen.
Der Autor referiert gemeinsam mit Jasmin Hartmann, Leiterin des Heimat- und Keramikmuseums, über einige Stationen und Episoden aus der Geschichte der Familienunternehmen Tonwarenfabrik Ernst Kammüller und Tonwerke Kandern, die im gleichnamigen Buch dokumentiert sind. Fast 300 Gäste sind ins Kino zu der Veranstaltung gekommen. Viele erkennen auf den gezeigten Fotos Verwandte, Nachbarn und Dorfbewohner wieder. Es ist wie das gemeinsame Blättern durch ein Familienalbum. Kein Wunder, denn die Geschicke der Firmen prägten das Leben vieler Menschen in der Kleinstadt.
2002 war die Tonwarenfabrik mit knapp 50 Arbeitsplätzen der größte private Arbeitgeber vor Ort. Die Tonwerke beschäftigten in den Achtzigerjahren über 100 Personen. Heute sind sie geschlossen; die Lehmgruben liegen brach. Die Tonwerke waren von 1837 bis 1998 in Betrieb, ihre Geschichte wird auf 100 Seiten dargestellt. Hauptsächlich geht es in dem Band um die Chronik der Tonwarenfabrik Ernst Kammüller (ab 2002 Kandern Feuerfest GmbH), deren Anfang bis ins Jahr 1668 zurückreicht und 2020 endet.
Michael Ernst Kammüller, der Neffe des letzten Inhabers Adolf Kammüller, hat die Publikation angestoßen. „Meine Vorfahren haben eine umfangreiche Akten- und Dokumentensammlung hinterlassen. Dieser besondere Umstand einerseits, und andererseits der außergewöhnliche persönliche Einsatz von Volker Scheer führten zur Entscheidung, anhand der Dokumente die Geschichte der Grobkeramik-Industrie chronologisch darzustellen und damit einen Beitrag zur Zeit-, Stadt-, Industrie- und Familiengeschichte zu leisten“, schreibt er im Vorwort.
Das Archiv umfasst rund 100 Ordner mit Dokumenten, Briefen, Plakaten und vielen Bildern. Drei Jahre war Volker Scheer damit beschäftigt, sie durchzusehen, zu sortieren und zu verarbeiten. Er ist bereits Autor und Herausgeber mehrerer Publikationen über Kandern, etwa der Ortschronik zum 200-jährigen Stadtrecht. Er wurde 1940 in Kandern geboren, studierte Volks- und Betriebswirtschaft, war selbstständig im Facheinzelhandel und lebt heute im Ruhestand in Freiburg und Todtnauberg. Sein neues Buch ist eine Zeitreise durch die regionale und nationale Geschichte – von der Badischen Revolution bis in die Gegenwart.
Volker G. Scheer „Tonwarenfabrik Ernst Kammüller und Tonwerke Kandern“, 480 Seiten, 780 Abbildungen, 29 Euro. Der Band ist im Eigenverlag erschienen und in der Tourist-Info sowie der Buchhandlung Bucheule in Kandern erhältlich.