Freiburg, Mai 2016
Seit dem Januar 2013 tauchte sie immer wieder auf, die europapolitische Diskussion, die nun ganz konkret terminiert ist und inzwischen auf den Namen Brexit hört: Damals kündigte Premierminister James Cameron an, den britischen Wählern eine Abstimmung über den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der Europäischen Union zu ermöglichen.
Am 23. Juni wird die Abstimmung auf der Insel stattfinden (Stand Ende Mai). Was aber bei der Brexit-Diskussion häufig übersehen wird: Sollten die britischen Wähler sich tatsächlich für ein Verlassen der EU entscheiden (und viele Meinungsumfragen halten dies durchaus für möglich), würde dies zunächst einmal einen langwierigen und schwierigen Verhandlungsprozess einleiten. Denn ein Verlassen der EU ist keinesfalls kurzfristig möglich. Viele Fragen sind zu klären und müssen am Verhandlungstisch sondiert werden.
Großbritannien dürfte nämlich kein Interesse daran haben, die Brücken auf den Kontinent, zur europäischen Union, komplett abzubrechen. Vielmehr dürfte es für die Briten darum gehen, so viele Privilegien wie möglich beim Zugang zum größten Binnenmarkt der Welt zu erhalten und sich gleichzeitig so wenige unliebsame europapolitische Bedingungen hierfür einzuhandeln wie nötig.
Das Problem dabei: Ein solch langwieriger Prozess mit ungewissem Ausgang produziert aus Sicht der Finanzmärkte vor allem eines, nämlich Unsicherheit. Und diese Unsicherheit – das konnten wir alle in den Krisenszenarien der letzten Jahre immer wieder erleben – ist es, die geradezu Gift ist für die Perspektiven an den Finanzmärkten.
Nicht nur in Großbritannien, sondern sicherlich auch in Europa insgesamt. Verstärkt würde eine solche Unsicherheit noch durch die zunächst zu erwartenden negativen wirtschaftlichen Auswirkungen. Aber: Auch wenn die wirklich konkreten konjunkturellen Konsequenzen eines »Ja« zum Brexit überaus schwer abzuschätzen sind, scheint doch klar, dass angesichts der hohen Abhängigkeit der britischen Wirtschaft von den europäischen Partnern in erster Linie das Vereinigte Königreich selbst negativ betroffen wäre: Während nur etwa zehn Prozent der EU-Exporte nach Großbritannien gehen, entfallen gut 50 Prozent der Exporte Großbritanniens auf die EU. Die unmittelbaren Effekte auf die Wirtschaft Großbritanniens wären somit aller Voraussicht nach deutlich spürbarer als die umgekehrte Wirkung auf die EU.
Unbestritten sind die Dimensionen der Brexit-Entscheidung in jedem Fall historisch. Die Auswirkungen auf Gesamtwirtschaft und Anlagemärkte dürften hingegen überschaubar bleiben. Einzige Ausnahme: Großbritannien selbst. Hier könnten sich aufgrund der hohen Abhängigkeit vom Rest der EU durchaus negative Entwicklungen ergeben.
Für den Kapitalanleger ist die gesamte Brexit-Diskussion weit weniger wichtig, als es die öffentliche Diskussion suggeriert. Denn selbst wenn die Entscheidung tatsächlich auf ein Ausscheiden Großbritanniens aus der EU hinausläuft und selbst wenn sich daraus auch gravierendere Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung ergeben sollten: Merkliche langfristige Einbußen auf weltwirtschaftlicher Ebene oder damit verbunden geringere Wachstumsaussichten für die weltweiten Aktienmärkte sind eher nicht zu erwarten. Dafür ist die weltwirtschaftliche Bedeutung Großbritanniens allein – etwa 2 bis 3 Prozent der weltweiten Wertschöpfung – zu gering.
Der Finanzplatz London würde allerdings durch einen EU-Austritt perspektivisch geschwächt – die Finanzdienstleistungen hätten von dort keinen uneingeschränkten Marktzugang in die EU mehr. Insbesondere Banken aus dem Rest der EU könnten daher ihre Präsenz in London überdenken. Frankfurt würde dann höchstwahrscheinlich profitieren, aber vermutlich eher mittelfristig.
Was müssen Anleger beachten? Gibt es Papiere, Aktien, Fonds, die evtl. stärker im Auge zu behalten sind? Anleger, die – wie von uns grundsätzlich empfohlen – mit einem weltweit diversifizierten, kostengünstigen Portfolio aus Aktien und Anleihen aufgestellt sind, haben keine nennenswerten mittel- bis langfristigen Auswirkungen auf ihre Kapitalanlage zu befürchten, egal wie die Abstimmung ausgeht. t
Philipp Dobbert, der Autor dieser Analyse, ist Chefvolkswirt der auf Honorarberatung spezialisierten quirin bank, deren Geschäftsmodell darauf ausgerichtet ist, Anleger unabhängig und transparent zu beraten. Neben dem Anlagegeschäft für Privatkunden ist das Finanzinstitut auch als Unternehmerbank aktiv. Hierbei steht die Beratung für mittelständische Unternehmen bei Finanzierungsmaßnahmen auf Eigenkapitalbasis im Mittelpunkt. Das Institut wurde 1996 von Karl Matthäus Schmidt gegründet, hat rund 200 Mitarbeiter und betreut inzwischen einen Kundenstamm mit einem Vermögen von 2,7 Mrd. Euro.