Ein Expresszug schien das Projekt lange Zeit nicht zu sein, das am alten Güterbahnhof Station macht, zunächst mit dem weltmännischen Aufkleber „Gare du Nord“, jetzt als „Güterbahnhof Nord“: Gefühlt seit der Jahrtausendwende ist es in der Diskussion, aber hat in den vergangenen vier Jahren erstaunlich Fahrt aufgenommen. Am Ende wurde eine Wohn- und Gewerbenutzung gefunden, die den Durchbruch in der Vermarktung brachte – und das Gegenteil dessen ist, was ursprünglich geplant war.
Mit Hilfe einer Finanzspritze durch den Gelände-Eigentümer Aurelis konnte nun überraschend eine Lösung für ein Problem gefunden werden, das seit Jahren unlösbar schien: Die Scharr Flüssiggas AG wird den Standort Freiburg jetzt doch aufgeben. Sie handelt mit Stoffen, die eine unmittelbare Haus-Nachbarschaft, aber auch große Veranstaltungen in der angrenzenden alten Lokhalle aus Sicherheitsgründen ausschloss. Dadurch wird der Weg für eine weitere Entwicklung mit zusätzlichen Flächen für Wohnen und Arbeiten frei.
„Lasst uns nicht kleinlich sein“ war laut Aurelis-Geschäftsführer Thaddäus Zajac am Ende das Motto für die Umsiedlung des Flüssiggaslagers am westlichen Rand des Areals. Über eine angemessene Zahlung kann nunmehr eine Geschossfläche von 100.000 Quadratmetern bebaut werden, zu 65 Prozent mit Wohnen, zum Rest mit Gewerbe. Der Deal, der dem sogenannten „Störfallbetrieb“ Scharr nach Mutmaßungen einen ordentlichen siebenstelligen Betrag und der Stadt die Abtretung von 22 Prozent der Fläche für geförderten Wohnraum ermöglicht, kann als letzter Baustein für ein spannendes Projekt im Rahmen der Erschließung neuer Stadtteile gesehen werden. Bis zum Abriss prägten hinter der erhaltenen alten Zollhalle vor allem Lagerhäuser mit Verladerampen das Bild einer Industriebrache, die zwischenzeitlich mit Ateliers, Getränkehandel, Feuerwehrhäuschen und der Gaststätte „Cantina“ einen freiburg-untypischen Flair am stillgelegten Gleis entfaltete.
Die Wirtschaftsförderung der Stadt hoffte lange Zeit darauf, Kreative und Softwareunternehmer hier ansiedeln zu können, was in kleinerem Rahmen spät gelang: Als die Flüssiggas-Ansiedlung noch als unverrückbar galt, einigte man sich auf Container-Lösungen und CoworkingRäume in der denkmalgeschützten Lokhalle am Westrand des Areals. Eine kulturelle oder Event-Nutzung, die seit 1998 diskutiert wurde, war damit vom Tisch. Jetzt präsentiert sich die langsam in die Gänge gekommene Entwicklung als Glücksfall für die Stadt – ein stillgelegtes Industriegelände aus der Zeit um 1900, das in Fahrraddistanz zur Innenstadt liegt und gleichzeitig gut angebunden an den Autoanschluss Freiburg-Nord, wird durch die passende Mischung aus Wohnen und Arbeiten zu einem städtebaulichen Hotspot: keine Schlafstadt, aber auch kein dröges Gewerbegebiet.
Am Ende werden dort rund 1300 Wohnungen entstanden sein, die für den abgegrasten Freiburger Immobilienmarkt wieder etwas Blüte verkörpern, 450 Studenten-Apartments, die bereits errichtet und bezogen sind, nicht eingerechnet. Auf knapp zwei Dritteln der abgetretenen 22 Prozent kann die Stadt Freiburg überdies versuchen, ihrer von einer extravaganten Gemeinderats-Mehrheit verhängten Verpflichtung für sozialen Wohnraum nachzukommen. Baubürgermeister Prof. Martin Haag spricht vom „größten städtebaulichen Entwicklungsgebiet“, das es gegenwärtig in der Stadt gebe, die Verschmelzung von Wohnen und Arbeiten sei ohnehin „ein Megathema“.
Der Erfolg hat inzwischen einige Väter und Mütter: SPD-Fraktionschefin Renate Buchen reklamiert für sich, dass sie es war, die die nicht mehr einigen Partner Stadt und Aurelis für den Flächengewinn wieder ins Gespräch gebracht hat. Eckart Friebis, ihr Pendant bei den Grünen, legte gar eine klugbärige Mitteilung vor, dass seine Fraktion die neueste Bebauungsplan-Änderung der Stadtverwaltung vorformuliert hätte. Noch vor vier Jahren hätten sich wohl nur wenige mit der Entwicklung des Geländes geschmückt: Selbst der zwischenzeitliche Name „Gare du Nord“ war der Gemeinderats-Mehrheit peinlich, die Stadt wollte einen Gewerbeschwerpunkt, der Projektentwickler dagegen mehr Wohnungen.
Dass die daraus gefundene jetzige Mischung dann noch am Markt funktioniert hat, ist einigen Kehrtwenden zu verdanken: Jetzt entstehen dort zwei Hotels, die Firma Unmüssig plant nach Informationen von netzwerk südbaden ein Boardinghouse, welches Wohnen mit Concierge-Annehmlichkeiten verbindet, es befinden sich bereits Studentenblocks und Kitas dort, ein dm-Drogeriemarkt und Gastronomie werden entstehen, dazu Handwerksbetriebe, die neue Sixt-Filiale und das Anhängerland. Eingebettet in eine Infrastruktur mit Fitnessstudios und Agenturen. Einiges lebt vom alten Hallen-Charme mit eingestreuten, ansprechenden Neubauten wie von der Druckerei Simon, manches wie das Hotel des Hilton-Ablegers Wyndham (ab März 2017) ist bauliche Stangenware und auf Leben in der Nachbarschaft angewiesen.
Dass hier welches entstehen kann, belegt auch der Kauf des Alten Zollhofs am südlichen Geländekopf durch die Herder Gruppe im Jahr 2013. Matthias Sasse vom Freiburger Gewerbe-Immobilienbüro MSI hat als Vermarkter die Entwicklung bei den Firmenmietern begleitet und sieht im Quartier, „dass es vor allem durch das Wohnen Fahrt aufgenommen hat“. Als die ersten Studenten im „Campo Nuovo“ eingezogen waren und noch zu bauende Eigentumswohnungen sich reger Nachfrage erfreuten, habe es angezogen, weil zu sehen war, „dass hier etwas stattfindet.“ Das Gebiet sei klar abzugrenzen von den klassischen Gewerbegebieten im Freiburger Norden und auf der Haid, „es gibt hier kein Grüne-Wiese-Feeling“. Aktuell seien noch Flächen zu erwerben, sagt Sasse, die aufgrund ihrer baulichen Voraussetzungen und Größe den Vorteil hätten, dass sich in drei Jahren nicht der nächste Umzug anschließt. Mit dem Unternehmen „Thomas Daily“ hat Sasse einen der führenden Nachrichtendienste der Immobilienwirtschaft im Freiburger Norden angesiedelt.
Die Infrastruktur des Geländes sorge auch für eine positive Entwicklung für die Mitarbeiter-Gewinnung, ist sich Sasse sicher. Die Zentralität mit einem verbesserten Anschluss an den Norden täte ein übriges: Unter seinen Interessenten finden sich durchaus auch Notare oder Rechtsanwaltskanzleien, die wegkommen von repräsentativen City-Adressen in der Fußgängerzone, weil sie ihren Klienten eine Erreichbarkeit ohne Parkhaus-Schlange oder Regen-Spaziergang bieten möchten. Die von Sasse untermauerte „gute Vielfalt in der Vermarktung“ unterschiedlich großer Flächen und Nutzungsarten könnte sogar noch durch einen lange Zeit realitätsfernen Turm am Geländerand zusätzlich ausgeleuchtet werden. Wie zu hören ist, ist der plusenergetische Smart Green Tower des Architekten Wolfgang Frey im Stadium einer Baugenehmigung angekommen.