Der Freiburger Personalexperte Rudolf Kast mahnt seit Jahren vor dem, was nun eingetreten ist: einem flächendeckenden Arbeitskräftemangel. Worin er die Gründe dafür sieht und was er Unternehmen rät.
VON KATHRIN ERMERT
Der Begriff „Alterspyramide“ trifft eigentlich nicht mehr zu: Einst war sie ein Tannenbaum mit breiter Basis und dünner Spitze. Längst jedoch sind die breiten Auswüchse nach oben verlagert und das Fundament wird bis auf einige Beulen schmäler. 1964 war der geburtenstärkste Jahrgang der Nachkriegszeit. Die Anfang der 1960er-Jahre geborenen, sogenannten Boomer sind nun um die 60 Jahre alt und verabschieden sich bald in den Ruhestand. Deutlich weniger Junge rücken nach. Der demografische Wandel ist auf dem Arbeitsmarkt angekommen. Die Personaldecke ist zu knapp und wird noch knapper werden.
„Wir haben längst einen Arbeitskräftemangel, nicht nur einen Fachkräftemangel“, sagt Rudolf Kast. Der Jurist, der viele Jahre die Personalabteilung des Sick-Konzerns leitete und seit zwölf Jahren seine eigene HR-Beratung “Die Personalmanufaktur” betreibt, sieht das zum Beispiel anhand vieler Stellenanzeigen für un- und angelernte Kräfte. Zudem suchen Firmen Rekrutierungsexperten, und es schießen neue Personalberatungen aus dem Boden, weil sie das große Geschäft wittern. Manche Firmen berichten von häufigen, teilweise lästigen Anrufen oder E-Mails.
Mitarbeiter fehlen flächendeckend in allen Branchen. Einige Qualifikationen wie IT-Experten kann man in Deutschland kaum mehr bekommen. Auch Handwerksbetriebe und Pflegeeinrichtungen rekrutieren mithilfe von Kammern und Arbeitsagenturen im Ausland. Fachkräfte im mittleren Management wie Controller sind laut Kast schwieriger zu finden als Geschäftsführer. Die rasante Entwicklung in der Logistik erfordert zahlreiche Mitarbeiter in Lagern und Lastern. Auch Handel und Gastronomie suchen Aushilfen. Mancherorts ersetzen Serviceroboter fehlende Mitarbeiter.
Bleibe- statt Bewerbungsgespräche
Hauptgrund für die Situation auf dem Arbeitsmarkt ist natürlich der demografische Wandel. Aber Kast sieht auch eine „falsche Weichenstellung der Politik in den letzten Jahren“. Zum Beispiel beim Thema Zuwanderung: „Wir sind kein Einwanderungsland, obwohl wir eines sein sollten“, sagt er. Es gebe für Fachkräfte aus dem Ausland, vor allem dem nichteuropäischen, bürokratische Hürden ohne Ende. Zudem hat sich Deutschland zu sehr auf die akademische Ausbildung ausgerichtet, zu wenig für die berufliche geworben. Und der Frauenanteil auf dem Arbeitsmarkt ist steigerungsfähig. Die deutsche Teilzeitquote zählt zu den höchsten in Europa.
Vor allem aber sind infolge der Rente mit 63 etliche Fachkräfte dem Arbeitsmarkt verloren gegangen. „Was ist das für eine Botschaft?“, ereifert sich der 69-Jährige. „Arbeit ist doch nicht nur Frohn, sondern kann auch Spaß machen.“ Er spricht nicht von Älteren, sondern von „Professionals“ mit viel Berufserfahrung, die nach wie vor gebraucht würden. „Mir macht meine Arbeit viel Spaß, deshalb arbeite ich ja noch“, sagt Kast.
Spaß an der Arbeit: Das hat mit Arbeitsorganisation zu tun, mit Führung und dabei geht es gleichzeitig um Mitarbeiterbindung. „Die erste Quelle der Rekrutierung ist die Mitarbeiterbindung“, sagt Kast. Er rät Unternehmen, mehr „Bleibegespräche“ zu führen, wie er es nennt. Dann könnten sie sich manch ein Bewerbungsgespräch sparen. Auch müssten Firmen ihr Führungspersonal besser schulen, denn schlechte Führung sei der Hauptgrund für Kündigungen. Und sie sollten die Arbeit so organisieren, dass die Mitarbeiter sie gerne machen.
Generationen mit Ansprüchen
Tatsächlich aber scheint die „Mangelwirtschaft“, wie Kast die Arbeitsmarktsituation nennt, immer noch nicht ins Bewusstsein vieler Unternehmen vorgedrungen zu sein. Diesen Eindruck bekommt der Personalexperte, wenn er sich durch Firmenwebsites klickt. Da ist allenfalls mal von ein paar gängigen Benefits die Rede, und immerhin hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass es sinnvoll ist, sich familienfreundlich zu präsentieren. Insgesamt aber, findet Kast, „ist das noch ein Trauerspiel“.
Die Websites vermittelten zum Beispiel viel zu wenig Begeisterung für anspruchsvolle und lehrreiche Tätigkeiten. Nur selten sieht er eine „Candidate Journey“, eine Gestaltung aus Bewerbersicht, oder dass Firmen sich mit Videos, Blogs oder auch Sprechblasen-Dialogen Mitarbeitern vorstellen. Dabei liegt die Betonung auf vorstellen: Die Firma stellt sich beim Arbeitnehmer, beim Kandidaten als potenziellen Besucher der Webseite vor und erzählt, wer sie ist und was sie macht.
Kast beobachtet, dass sich gerade große, bekannte Namen – anders als manch’ Mittelständler, der mit Herz und Seele punktet – auf ihr vermeintlich gutes Image verlassen. Sie bemühen sich weder um die Zufriedenheit ihrer Mitarbeiter, noch behandeln sie Bewerber mit der nötigen Wertschätzung. „Die Tatsache, dass wir längst in einem Arbeitnehmermarkt sind, und dass man sich heute als Arbeitgeber bei Arbeitnehmern bewerben muss – diese Erkenntnis ist noch nicht angekommen“, sagt Kast.
Dabei rückt auf den Arbeitsmarkt eine Klientel mit deutlichen Ansprüchen nach. Die Generationen Y (etwa Jahrgänge 1980 bis 2000) und Z (Jahrgänge 2000 und jünger) sind die vermögendsten, die es je gab. Und die verwöhntesten. Das prägt deren Einstellung zum Arbeitsleben. Plakativ gesagt: Während die Boomer lebten, um zu arbeiten, arbeiten die Jüngeren, um zu leben. Arbeitgeber erleben heute Bewerber, die mit vorgefertigten Fragebögen in die Vorstellungsgespräche kommen und dezidiert abfragen, was das Unternehmen ihnen zu bieten hat, berichtet Kast – „mit dieser manifestierten Anspruchshaltung müssen die Unternehmen sich auseinandersetzen“. Und sich zugleich bemühen, die Älteren so lang wie möglich bei Laune und somit im Job zu halten.
Wunsch, etwas Sinnvolles zu tun
Wie kann das gelingen? „Ich rate jedem zur Partizipation in der Arbeitsgestaltung“, sagt Kast. Nicht nur, aber speziell mit älteren Mitarbeitenden. Das Ziel: Sie mit individuellen Modellen über das Rentenalter hinaus weiter zu beschäftigen. Dabei geht es auch um Wissensmanagement: dass Ältere ihr Knowhow peu à peu an nachfolgende Generationen weitergeben. Oder auch mal umgekehrt: Kast schlägt als firmeninternes Projekt gern vor, „dass die Auszubildenden an die Schreibtische der Führungskräfte gehen und denen erklären, wie Social Media funktioniert, zum Beispiel wie eine Arbeitgeberbewertung bei Kununu zustande kommt und beeinflusst werden kann“.
Ohnehin ist Weiterbildung sehr wichtig – und gar nicht unbedingt teuer, dank Digitalisierung. Noch dazu kann sie Spaß machen, Stichwort: Gamification, also mit Hang zum spielerischen Wettbewerb. „Wenn die Begeisterung rüber schwappt in andere Bereiche, ist es der größte Gewinn für das Unternehmen“, sagt Kast. Auch das sei Mitarbeiterbindung.
Neben dem Spaß geht es zudem um den Sinn der Arbeit. Mehr als zwei Jahre Pandemie und bald drei Monate Krieg in Europa haben diesen Trend verstärkt. Er zeigt sich auf Unternehmensebene in der „Purpose“-Diskussion, dass Firmen ihre Systemrelevanz betonen oder ihren Beitrag zum Gemeinwohl. Und seitens der Arbeitnehmer beobachtet Kast – gerade bei Menschen in der Lebensmitte – den Wunsch, etwas Sinnvolles zu tun. Dafür verzichteten manche seiner Klienten sogar auf einen erheblichen Teil ihres Gehalts – nur um der Aufgabe willen, um einen nicht rein zahlengetriebenen Job zu machen.
Kast sieht hier Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Frauen hinterfragten stärker Sinn und Aufgabenstellung der Arbeit, achteten mehr auf Teamorientierung und die Teilung von Verantwortung, während für Männer Status, Bezahlung und Einfluss eine größere Rolle spielten. „Der unbedingte Machtwille, in Toppositionen zu kommen, ist bei Frauen noch nicht so ausgeprägt wie bei Männern“, sagt Kast und ergänzt, dass diese Tendenz bei Jüngeren abnimmt. Junge Väter engagierten sich deutlich mehr für ihre Familie.