Das Cartoonmuseum in Basel zeigt die beeindruckenden Bilderwelten der Mailänder Comic-Künstlerin und Illustratorin Gabriella Giandelli. „Kaleidoscope“ heißt die Schau, die das vielfältige Werk einer Zeichnerin zeigt.
VON CHRISTINE WEIS
Zwei überdimensionierte Riesen-Singvögel sitzen auf Stadthäusern. Straße und Gehwege sind leergefegt, nur ein Stück Papier und ein kleiner Ball liegen auf dem grauen Asphalt. Einige Fenster und Türen sind zugemauert und die mageren Bäume blätterlos. Nichts außer den beiden Vögeln deutet auf etwas Lebendiges hin.
Eine schöne Idee, diese Arbeit von Gabriella Giandelli auf die hohe Eingangswand zur Ausstellung im Lichthof zwischen Vorder- und Hinterhaus des Museums anzubringen. Durch das Bild geht`s hinein in die narrative Bilderwelt der italienischen Zeichnerin.
Gleich im ersten Raum warten weitere übergroße Tiere auf ihre Betrachter: Ein gigantischer Salamander sitzt im Wohnzimmer, ein zimmerhoher Storch stapft über den Flur, ein Elch läuft durchs Treppenhaus und ein Hund über die Dächer. Städte und Wohnungen sind verlassen. Die Tiere haben den Platz der Menschen eingenommen. Nur ein Mensch ist noch da: Ein Mädchen steht am erleuchteten Fenster eines Hauses inmitten einer futuristischen Mondlandschaft.
Diese farbstarken, großformatigen Zeichnungen hat Giandelli eigens für die Schau in Basel geschaffen, diese und einige mehr finden sich in dem neuen Buch „Mirabile Bestiarium“, das zur Ausstellung im Christoph Merian Verlag erscheint. Als Bestiarium bezeichnete man mittelalterliche Tierdichtung, die reale oder fantasierte Eigenschaften von Tieren darstellte. In Giandellis Bestiarium verursacht eine giftige Substanz das Ende der menschlichen Ära.
Nachdem alle Menschen gestorben waren, bevölkern Tiere innerhalb von wenigen Tagen den gesamten Planeten und richten sich in den Wohnungen und Städten ein. Die Übernahme scheint reibungslos: „Die verschiedenen Arten teilten sich friedlich den Platz“, heißt es im Begleittext. Das apokalyptische Szenario wirft die Frage auf, ob die Welt ohne den Menschen eine friedlichere wäre. Vielleicht sogar eine schönere – die fantasievollen surrealen Bilder lassen das vermuten.
Neben dem Bestiarium wird man im selben Raum hineingezogen in die Weiten Australiens mit dem rotglühenden Steinmonolith Ayers Rock, grasenden Kängurus auf einer Landebahn, dem Hafen von Sydney mit der muschelförmigen Oper und einem Bild im Stil des traditionellen Dot-Paintings der Aborigines.
Die 59-jährige Gabriella Giandelli lebt und arbeitet in Mailand. Ihre ersten Comics erschienen 1984 in avantgardistischen Magazinen wie Alter Alter, Frigidaire oder Strapazin. Es sind von der Punkbewegung inspirierte Storys. In den 90er Jahren macht sich die Italienerin einen Namen als Kinderbuch-Illustratorin prominenter Autoren wie Jostein Gaarder und Jerry Kramsky. Auch Juli Zehs „Le pays des homme“ (die französische Ausgabe von „Das Land der Menschen“) hat sie illustriert. Heute arbeitet sie regelmäßig für Medien wie La Repubblica, The New Yorker, The New York Times und Vanity, entwirft Muster für Stoffe, Teppiche, Uhren und Brillen für Designfirmen wie Alessi, Memphis oder Swatch.
Ihren internationalen Durchbruch schaffte die Mailänderin 1994 mit dem Graphic Novel „Silent Blanket“. Die Geschichte handelt von einigen Menschen, die in einer düsteren Gegend in einem trostlosen, mit Ungeziefer bevölkerten Hochhaus in New York leben. Zwei Junkies, eine Frau und der einsame Paul, der sich mit einer Katze und der Frau ein wenig anfreundet und am Ende Opfer eines Verbrechens wird.
Einsamkeit, Melancholie und Außenseitertum sind Gandiellis Themen, die sich durch ihr Oeuvre ziehen. Stets kommt sie in den narrativen Werken mit wenig Text aus. Sprachlosigkeit kann auch als Ausdruck von Vereinsamung gedeutet werden. Die Zeichnungen wirken ohne Worte umso berührender.
„Ich arbeite nicht gerne mit Stereotypen. Ich bevorzuge Ambivalenzen.“
Gabriella Giandelli
Die Ausstellung zeigt auf drei Etagen Arbeiten von allen Schaffensphasen der Künstlerin. Tieren begegnet man fast n jedem Raum. Am Anfang des Museumsrundgangs haben Hamster, Katzen und Alligatoren die Menschen aus ihren Häusern verdrängt. In einem der Räume im hinteren Bereich der Ausstellung gibt es eine Bilderserie mit einem weißen Hasen, der durch Wohnungen streift.
Dieses Mal sind die Menschen noch da. Diese Zeichnungen sind Teil des Graphic Novels „Intérieur“, der kurz vor Weihnachten in einem anonymen Hochhaus in Mailand spielt. Der Hase ist ein stiller, unsichtbarer Begleiter. Er besucht die Bewohner und beobachtet eine alte Frau beim Sterben, ein Ehepaar im Streit, Jugendliche beim Computerspiel oder einen einsamen Mann, der mit seinen Pflanzen redet. Im Keller lebt ein unförmiges Wesen, das sich von den Träumen und Schicksalen der Bewohner ernährt, solange, bis der Hase es frei lässt. Eine bizarre Weihnachtsgeschichte.
Die Bilder und Comicstreifen in Großformat zu sehen, ist auch für diejenigen inspirierend, die die Bücher Grandellis schon kennen. Für alle anderen Besucher empfiehlt es sich, den ein oder anderen Graphic Novel im Museumshop mitzunehmen. In der gutsortierten Bibliothek trifft man auch auf altbekannte Comic-Helden wie Tim und Struppi, Lucky Luke oder die Peanuts.
Das Museum befindet sich unweit der Wettsteinbrücke und ist auch architektonisch interessant. Der Altbau ist eine spätgotische Liegenschaft aus dem Jahr 1483. Der Neubau im Hinterhof ist über einen Lichthof mit Passerellen verbunden und wurde vom renommierten Basler Architekturbüro Herzog & de Meuron entworfen.
Die Ausstellung „Kaleidoscope“ im Cartoonmuseum läuft noch bis zum 30. Oktober. Tickets und eine Übersicht zu den Führungen und dem Begleitprogramm gibt’s online: www.cartoonmuseum.ch.