Wie lässt sich die angeschlagene Beziehung von Einzelhandel und Kunde retten? Nicht ohne Hilfe von außen, sagt Psychologe Jochen Leucht.
PROTOKOLL: RUDI RASCHKE
„Eine zentrale Frage kann sein, welche Art von Intervention bei Entfremdung mit gegenseitiger Verunsicherung im derzeitigen Kontext sinnvoll ist? So kann sich der Einzelhandel zum Beispiel – um die Paarbeziehung zum Kunden zu stabilisieren – auf die Themen Handlungssicherheit und Prozesssicherheit konzentrieren.
Aktuell bedeutet dies für den Einzelhandel, dass er die Zuständigkeit für das Thema Sicherheit zu sich nimmt: durch die verbindliche Einhaltung und Kontrolle von 2G und der Abstandgebote. Läden sollten gerade unter Pandemie- Bedingungen nicht überfüllt sein, sonstfühlen sich die Kunden nicht sicher und drängen schnell wieder raus. Der dritte zentrale Punkt ist die Beziehungssicherheit.
Kunden wollen zuallererst ohne Zeitdruck gesehen und nicht mit aller Macht beraten werden. Im therapeutischen Kontext unterscheiden wir die drei Dimensionen Fachberatung, Prozessberatung und das hilfreiche Gespräch, welches für die Beziehungsarbeit von größter Bedeutung ist.
Heißt: ich verbringe mit meinem Gegenüber eine gute Zeit ohne Gegenleistung und Veränderungsabsicht. Nach all den Monaten voller Unsicherheit, Sorge und gegenseitiger Irritation hat das hilfreiche Gespräch eine hohe vertrauensstiftende Funktion und funktioniert nur, wenn ich dem Gegenüber wohlwollend und ohne Absicht entgegentreten und mit ihm eine gute Zeit verbringen will.
Was sicherlich einen heilsamen Effekt haben kann und an die Beziehungssicherheit anknüpft ist die Schaffung von sicheren, ästhetischen und diversen Begegnungsräumen in der Stadt. Orte, die zum Verweilen einladen, die sinnlich sind und an denen Menschen sich gerne aufhalten. Ob oft seelenlose Filialisten und Ketten an dieser Art von Beziehungsarbeit in der Innenstadt Interesse haben mag ich nicht beantworten.
Ohne Zweifel wird dies ohne Zutun der Stadt als Regulativ nicht möglich sein. Sie hat gerade in Zeiten der Pandemie eine deutlich größere Kontroll- und Fürsorgepflicht als vor der Pandemie. Der Markt wird sich aus sich heraus nicht für die ästhetische Gestaltung von innerstädtischen Plätzen zuständig fühlen. Die krisenhafte Paarbeziehung zwischen Einzelhandel und Kunde ist auf Hilfe von außen angewiesen.
So kann die Stadt als übergeordnete Instanz für einen guten belastbaren Rahmen Sorge tragen, in welchen sich Konflikte in ein neues Miteinander transformieren lassen: Die Innenstadt ruft nach schönen und diversen Plätzen, in welchen sich Einzelhandel und Kunde ohne Zeitdruck neu kennen lernen dürfen.
Selbst der Werbespot der Penny-Supermärkte zu Weihnachten bringt ganz zentrale emotionale Bedürfnisse unserer Pandemie-Zeit auf den Punkt. Eine Stadt sollte sagen: Wir räumen auf und machen jetzt die Plätze schön, damit Ihr im Frühjahr dort ein Glas Wein trinken könnt. Der Handel allein kann das nicht leisten, da reichen ein paar Blumenbänke längst nicht mehr nicht aus.
Denken wir einfach an ein Paar, dass sich für die Lösung seiner Probleme ein Wochenende ohne Alltagsdruck gönnen will: Es wird vermutlich nicht bei Burgerking sitzen. Wenn Kunde und Handel wieder in eine bessere Beziehung gebracht werden sollen, braucht es entsprechende Orte.“
Jochen Leucht ist Systemischer Paar- und Familientherapeut (DGSF) und Fachlich-Systemische Leitung am Systemischen Institut (SI) für Aus- und Weiterbildung am Universitätsklinikum Freiburg.