Eine Spurensuche im Jahr nach dem Votum: wie der Brexit Arbeitnehmer, Firmen und Experten zum Nachdenken bringt.
Über Europa, alternative Geschäftsmodelle – und Heimweh.
Von Rudi Raschke
Die britischen Karikaturisten sind seit einem Jahr in noch besserer Form als ohnehin: Zum Brexit zeigte der „Daily Telegraph“ einen jubelnd wegrennenden Kahlkopf im England-Oberteil mit einer Axt in der eigenen rechten Hand und einem blutenden Stumpf zur Linken. Zurück bleibt ein rundlich-rotgesichtiger Herr im Europa-Shirt, der die frisch abgehackte Hand noch ratlos schüttelt.
Es war der Auftakt für eine Reihe makabrer Späße, wie sie nur die Engländer zustande bekommen. Die Zeitungen der ersten Mai-Woche 2017 zeigen die Premierministerin Theresa May hoch zu Ross, die als eiserne Lady mit Blick auf die Pläne der Labour-Konkurrenz sagt: „Keine Rückkehr in die 1970er Jahre!“ Stattdessen, zweite Sprechblase darunter: „1830 oder Tod!!“ So in etwa empfinden fortschrittliche Engländer den Brexit: Als Rückschritt in längst vergangene Zeiten, selbst wenn sich manche immer noch darauf freuen.
Teilweise pragmatisch packen dagegen konservative Kommentatoren ihn an, beispielsweise in der „Times“, wenn es um die zähen Verhandlungen mit der Rest-EU geht: „Machen wir uns nichts vor – wenn zwei sich scheiden lassen, geht es immer ums Geld“ bleibt am Tag nach der Anreise von der Frühstückslektüre.
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Firmenbesuch bei der Niederlassung eines Waldkircher Unternehmens in London: Im Westen des Großraums, nahe Reading, findet sich mit Ganter Interior eine Firma, die für deutsche Verlässlichkeit geschätzt wird. Bei Ganter haben sie über 200 Filialen der Modemarke „Burberry“ ausgestattet, insgesamt auch die Hälfte der Edel-Läden an Londons Regent Street nahe Piccadilly Circus und der parallelen New Bond Street. Kunden dort sind Chloé und Mont Blanc.
Martina Schniepp, die als Senior-Projektleiterin arbeitet, ist für englische Vorstellungen so etwas wie die perfekte deutsche Angestellte: Ausbildung als Schreinerin und Zimmermeisterin, Master of Business Administration, vor dem Job bei Ganter in der Entwicklungshilfe beim Roten Kreuz und der GIZ tätig, sie war in Uganda, Indonesien und Sri Lanka, hat ganze Häuser gebaut. Ihr erstes Projekt am aktuellen Arbeitsplatz waren die Riverside-Bauten des britischen Über-Architekten Norman Foster. Seit 2008 arbeitet sie in London, quasi auch ein bisschen Entwicklungsarbeit, auch wenn sie das nicht sagt.
Schniepp, die heute noch als Genossin der alternativen Zimmerei Grünspecht in Freiburg-Kappel fungiert, koordiniert beim edlen Innenausbau-Unternehmen alles von der Ausschreibung über die Angebotserstellung bis zur Übergabe, Bauleitung inklusive.
Vom Brexit erfuhr sie daheim in Deutschland am Radio und hielt es für einen Scherz. Für die drei Kinder ihres schottischen Mannes, allesamt reiselustig und auch außerhalb Europas aufgewachsen, sei „eine Welt zusammen gebrochen“, sagt sie. Sie selbst mag sich einen „harten Brexit“ als Ergebnis einer hässlichen Scheidung ohne Zugeständnisse nicht vorstellen. Im internationalen Freundeskreis gebe es durchaus Angst, sie arbeite aber bei Ganter auch Seite an Seite mit englischen Kollegen, die eine vermeintliche Verbesserung für ihr Land durch den Brexit herbei gewählt haben – die Widersprüche im Königreich kann man nicht alle verstehen.
Die Realität für Ganter Interior vor Ort: Der Markt ist keineswegs zusammengebrochen. In den folgenden 12 Monaten hat sich bestätigt, was sich gleich in der Woche nach dem Brexit-Votum angedeutet hat: In besagter New Bond Street ist eine Galerie als Kunde abgesprungen, eine andere um die Ecke hat es geradewegs als Chance betrachtet, mit Hilfe von Ganter Interior das Kunstgeschäft auszubauen.
Wenn das Unternehmen richtig anspruchsvolle Handwerksarbeit ausführen muss, greift es weiterhin auf Arbeiter aus Deutschland, Österreich und der Schweiz zurück. Grund ist die praktisch nicht vorhandene (handwerkliche) Ausbildungskultur in England. Anders als in Deutschland sei kaum ein Unternehmen dazu bereit, eine anspruchsvolle Lehre in einem dualen System über drei Jahre hinweg zu übernehmen. Es gebe nur wenige Firmen, die dahin gehend in die Zukunft denken, sagt Martina Schniepp, daran habe der Brexit-Entscheid nichts geändert.
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Ihr Vorgesetzter James Tindale, Leiter der britischen Filiale von Ganter Interior, beschreibt die Gesamtsituation mit dem Begriff „Unsicherheit“. Es sei nach dem Votum zäher geworden, sagt er, der wie viele mit einem klaren „Nein“ für den Ausstieg und einer „Let’s Go“-Stimmung danach gerechnet habe. Konkret arbeiten bei ihm 60 bis 70 Prozent der Arbeiter auf den Baustellen aus EU-Ländern außerhalb Englands, mit Einheimischen ohne Ausbildung wird dies nach 2019, dem möglichen Austrittstermin, nicht zu kompensieren sein.
Für wenig Freude haben bei Ganter Interior auch Währungsschwankungen gesorgt, deutet Tindale an: Ein vereinbarter Festpreis für einen Auftrag in Pfund Sterling habe bei einem Verlust von 15 Prozent der britischen Währung durchaus Nachteile gebracht.
Die Hoffnung für das Unternehmen sind neben den edlen Flagship-Stores aber auch die „Residential“-Projekte, also der Ausbau feiner Stadtwohnungen in Kensington und Umgebung. Selbst hier lasse sich beobachten, dass der Markt weiterhin hochpreisig, aber zuletzt gefallen ist. Das werde jedoch wieder internationale Investoren anziehen, sagt Tindale. Aktuell hat er sieben feste Angestellte im Gewerbegebiet von Theale nahe Reading, das Ziel bleibt Wachstum, rund 10 Millionen Umsatz in den kommenden fünf Jahren.
Für Michael Ganter, den Chef des Unternehmens in der Waldkircher Zentrale (insgesamt 360 Mitarbeiter, 120 Mio. Euro gesamter Umsatz) besteht die Hoffnung, dass man sich vom britischen Gesamtklima unabhängig halten kann, solange es den Kunden, also hochwertigen Marken von Porsche bis Prada, gut geht. Er sieht beim Umsatz bisher noch keine Auswirkungen durch den Brexit.
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Sonntagnachmittag an einem Ort, den es im Zeitalter der sogenannten „Sozialen Medien“, der Hasssprache im Internet, den Foren dort und sämtlichen Debatten zwischen Twitter und Talkshow gar nicht mehr geben dürfte. Jeder kennt ihn aus seinen Englisch-Schulbüchern: Den wöchentlichen „Speakers Corner“ im wunderschönen Hyde Park. Redner auf Leitern und mit Mikrofon, ein hagerer Mann mit langem schwarzem Mantel und zerknautschtem Hut greift den Brexit und May an. Ein kräftigerer Herr im Streifenhemd protestiert hier und da zugunsten der Premierministerin: „Das hat sie nie gesagt“. Es wird leidenschaftlich gebrüllt, aber das weit Erstaunlichere daran ist, dass man sich überhaupt noch miteinander unterhält. Bei einem Thema, dass eigentlich entschieden ist. Und wie kein zweites das Land in alt und jung, altmodisch und progressiv, Land und Stadt spaltet. Unversöhnlich in „remain“ or „leave“, Bleiben oder Gehen. Mit die größte der Menschentrauben steht bei der Brexit-Debatte.
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Der Schopfheimer Florian Frey denkt weniger an Luxusmärkte und Konjunkturen, sondern trägt Sorge um seinen Warennachschub und sein Personal. Er führt mit seiner iranischen Partnerin die Kette „Herman Ze German“ mit selbstironisch-fehlerhaftem Akzent, aber überzeugender Bratwurst, auch Sauerkraut wird angeboten. Drei Filialen ziehen sich wie an der Schnur von der Themse bis ins feine Fitzrovia durch die City.
Frey tauchte gemeinsam mit seinem Wiesentäler Metzger dieses Frühjahr in zahlreichen süddeutschen Medien auf, besser lässt sich der drohende Ärger mit dem Brexit vermutlich nicht illustrieren als mit ihm: Ein deutscher Imbiss, der pro Woche eine knappe Tonne Wurst aus dem Landkreis Lörrach nach England importiert und dazu Bier von Rothaus und eine Hausmarke des südbadischen Supermarkts Hieber ausschenkt. Mit Catering hat Frey einst begonnen, seine Würste von Metzger Hug liegen bei der Formel 1 in Silverstone und beim weltweit wichtigsten Open-Air in Glastonbury auf dem Grill.
Jetzt sitzt Frey in seiner zuletzt eröffneten Filiale in der Charlotte Street, trinkt einen koffeinfreien Kaffee und erzählt, wie er sich die weitere Entwicklung vorstellt. Dass er weiterhin plant, die nächsten Filialen, vermutlich im freakigen Camden und an einem noch zu findenden Ort, zu eröffnen. Trendy, für Geschäftsleute wie Touristen, mit Pubs in der Nähe, fern von Klischees eines „Bavarian Hofbrauhaus“. England zu Gast beim gut gelaunten Deutschen.
Seit dem Sommer 2016 fragt er sich: „Wie weit will ich in diesem Land weiter investieren?“, selbst wenn sich noch nicht viel getan habe. Einen „hard Brexit“ mag auch er sich nicht vorstellen – weil es schlicht nicht funktionieren könne: In der Londoner Gastronomie arbeiten nach seinen Erfahrungen gerade noch fünf Prozent Briten, es gebe praktisch kein einheimisches Personal. Bei ihm stehen Deutsche, Spanier und Portugiesen hinterm Wursttresen, auch er sieht ein massives Problem in der Lehre: Einen normal ausgebildeten britischen Koch zu finden, sei praktisch unmöglich. Wenn überhaupt, stützten Erfahrungen in der Gastronomie sich nicht auf eine Kochschule, sondern auf das Wärmen von Aufgetautem im Pub.
Sollte es so kommen, dass seine wöchentliche Palette mit Würsten aus der Heimat nur noch trotz deftiger Zölle oder bürokratischer Bremsklötze ins Land käme, gibt es für ihn nur ein Szenario: möglichst rasch einen Metzger zu finden, mit dem er vor Ort produzieren kann – das würde sich allerdings nicht nur wegen der Ausbildung schwierig gestalten, für Frey fehlen sogar die Maschinen und Techniken für das feine Brät, das die Gäste zu „Herman Ze German“ treibt.
Die allgemeine Stimmung? Am Wochenende zuvor hat er eindringlich auf der Heimfahrt mit dem Taxifahrer aus dem Kosovo debattiert, den selbst ein Frust auf Flüchtlinge umtreibt. Frey sieht sogar in London eine diffuse „Angst vor Unbekanntem“ und hofft auf eine bessere Integration, die weitere Rechtsrucke verhindert.
Florian Frey ist Mitglied der AHK, der deutschen Deutsch-Britische Industrie- und Handelskammer, er sitzt bei Roundtables der ALMR am Tisch, einer Organisation, die 99 Prozent der Gastronomie-Kettenbetriebe in England vertritt. Er fühlt sich dort gehört, sagt aber auch, dass eher die Regierung beim Verband um Hilfe vorspricht, als welche anbieten zu können. „Keiner hat eine Lösung“ stellt er fest, hier und dort halte sich die Illusion, das Vereinigte Königreich könne so etwas wie eine zweite Schweiz werden, solide, wirtschaftlich unabhängig, weltweit erfolgreich.
Weil das auf der Insel so realistisch scheint wie ein richtig schließendes Fenster, sucht der ideenreiche Frey jetzt andere Aussichten neben der Expansion in seiner Wahlheimat: Eine Filiale in Berlin ist als weiteres Standbein angedacht – „ohne den Brexit würde ich das nicht machen.“
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Mit einer Pflegemanagerin, die vor elf Jahren als Krankenschwester mit Studiumsabschluss aus dem Schwarzwald den Weg an ein renommiertes Londoner Krankenhaus für eine Leitungsfunktion angetreten hatte, beim Cocktail auf der Dachbar im Süden Londons, ihren Namen mag sie nicht im Magazin lesen: Ja, sagt sie, die Preise sind zurück gegangen, die Immobilien-Anzeigen realistischer eingepreist. Sie empfände eine eigenwillige, negative Aufbruchstimmung im Freundes- und Kollegenkreis, auch die Engländer spürten, dass es bergab gehe in ihrem Land. Ihr Team, zu dem Ärzte und Pflegekräfte aus Indien, Kroatien, Deutschland und England zählen, wird sich wohl auflösen.
Sie selbst stellt sich gerade wieder an Häusern in der baden-württembergischen Heimat vor. Persönliche Gründe, die es nach mehr als einem Jahrzehnt ebenfalls für einen Rückzug gibt, würden durch den Brexit verstärkt. „Ein ‚Cherrypicking‘ nach dem Ausstieg will ich nicht abwarten“, sagt sie. Damit ist der englische Begriff für ‚Rosinenpicken‘ gemeint, in ihrem Fall, dass ein Teil der qualifizierten Belegschaft gehen muss, ein anderer Teil, zu dem auch sie gehören könnte, bleiben darf. Sie liebt London, deshalb muss es nicht sofort sein, aber den Brexit-Vollzug will sie dort nicht mehr erleben.
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Das eigenartig schizophrene Bild, das England zum Einjährigen des Brexit-Votums und im Vormonat der Neuwahlen abgibt, wird nicht nur durch den ohnehin herben Kontrast zwischen der modernen Metropole und dem schrullig-Traditionellen geprägt: Während im Londoner Osten ständig noch fortschrittlichere Bars den Ton angeben, proben in diesen Tagen in der Stadtmitte im St. James Park, auf abgesperrten Straßen und in Parks, die Kapellen und berittenen Truppen. Für die Parade zum 91. Geburtstag der Queen, die Mitte Juni stattfindet. Die Stadt und das Land sind irgendwie 21., zugleich aber auch 18. Jahrhundert. Die weit größere Spreizung findet nicht mehr nur zwischen „arm“ und „reich“, sondern zwischen „alt“ und „neu“ statt.
Auch im alltäglichen Humor finden sich alle Widersprüche, die das Königreich prägen: Dass man es irgendwie auch ohne die EU schaffen wird, sich durchzuwurschteln, ist in den Pubs in diesen Tagen genauso zu vernehmen wie die Selbstironie zum Fensterbau. Der einstige „German Plumber“, also der einzig kompetent arbeitende, deutsche Klempner, ist im Sprachgebrauch des Migranten-geprägten London inzwischen vom Ostblock-Sanitärfachmann, dem „Polish Plumber“ abgelöst.
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Ein Abendessen mit einem deutschen Reporter, der in London lebt und von dort für die „Süddeutsche Zeitung“ über den britischen Fußball berichtet und zu den Spielen der Ersten und Zweiten Bundesliga in Deutschland als Kommentator reist: Sven Haist kann sich vorstellen, dass die Begeisterung für deutsche Trainer nach den Erfolgen von Jürgen Klopp (Champion-League-Qualifikation mit Liverpool) und David Wagner (Sensations-Aufstieg mit Huddersfield) zu einem starken Bedarf nach weiteren Facharbeitern aus der deutschen Fußball-Branche führen wird.
Hier ein starrer Markt, in dem viel Geld von TV, Oligarchen und Scheichs ganz viel bewirken soll, dort sportlicher Esprit, eine moderne Ausbildung und ebensolche Konzepte, witzigerweise Eigenschaften, die man den Deutschen zuschreibt. Allein, auch hier kann der Brexit einen Strich durch die Rechnung machen, selbst im Millionen-Business Fußball sind sie unsicher geworden.
Haist sagt, man spüre im täglichen Leben kein Brexit-Gefühl, „aber alle wissen, dass es schwerer wird.“ Im Norden des Landes, in Sunderland, sagt er, wo Renault-Nissan das drittgrößte Autowerk Europas betreibt, werde es zwar zunächst keinen Abzug der Automobilindustrie geben – man könne sich aber auch überhaupt nicht vorstellen, dass es dort zu weiteren Ansiedlungen kommen wird, wenn Personal aus ärmeren Regionen Europas dort nicht mehr anheuern kann.
Das Paradox des Brexit: Dort, wo sich die einfachen und alten Leute eine Stärkung erhofft haben, dürfte er am ehesten für Nachteile sorgen. Es zeichnet sich das Bild einer Abwärtsspirale ab. Arbeitslosigkeit oder wirtschaftlicher Rückgang würden sich im Eigentums-verliebten England auch auf den Immobilienmarkt auswirken. Die „Housing Ladder“ wird der Hausbesitzer-Aufstieg genannt, auf der junge Menschen früh die erste Sprosse nehmen, um sich dank stetiger Wertsteigerung dann ein größeres Familienheim leisten zu können. Diese Leiter wird ins Wackeln geraten. Selbst im Paradies für Wohnungs-Spekulanten, der Hauptstadt London. Dort gehen die Preise in den soliden Gegenden erstmals über Monate zurück.
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Buckingham Gate, die Straße, die zum Palast der paradenerprobten Königin führt, auf dem Weg zur deutschen Deutsch-Britische Industrie- und Handelskammer fällt das Schild „UK Smile“ auf, aber hinter der Aufforderung in goldenen Buchstaben verbirgt sich schlicht ein Zahnveredler.
In einem Downing-Street-artigen Häuschen wenige Hausnummern weiter residiert die auch von „Herman“-Chef Florian Frey erwähnte AHK. Ihr Chef Ulrich Hoppe, seit 19 Jahren im Amt, kann wie kaum ein Deutscher in London analysieren, was der Brexit für die deutsche Wirtschaft auf der Insel bedeutet. Und damit auch für Südbaden.
Hoppe, ein groß gewachsener, vornehm-humorvoller Bremer, nimmt vor der altrosa Tapete im Besprechungsraum Platz und spricht klare Worte, warum es auf eine Lösung zwischen „harten“ und „softem“ Brexit herauslaufen werde. Zugleich nimmt er einen mit auf eine gedankliche Tour über die Insel, die vom Brexit über die wirtschaftlichen Talente bis zu Mentalitätsfragen führt – so vergnüglich wie tiefgründig.
Ohne einen Deal seien die Briten raus, sagt er, dies werde nicht geschehen, auch wenn Theresa May scheinbar die Katastrophe in Kauf nehme. Denn dann wären die Häfen de facto blockiert, die just-in-time-Produktion stünde vielerorts auf dem Spiel. Allerdings werde auch die Wirtschaft angesichts sanfter Rückgänge nicht zusammenbrechen, sagt Hoppe, genauso wenig wie durch den Währungsabfall, den es zu früheren EU-Zeiten vor sechs Jahren schon einmal gegeben habe.
Die These einer Abwärtsspirale will er nicht bejahen: „Es gibt immer noch rund 65 Millionen Konsumenten im Königreich.“ Kurzfristig werde da kein Werk geschlossen, sagt er mit Blick auf die Automobil-Industrie, außerdem könne der Standort entgegensteuern, wie es Irland mit niedrigen Steuern bereits unternommen hat.
Die große Herausforderung sei es, dass die Briten weiterhin eine Einwanderungspolitik behalten, die „offen für Talente“ sei, gerade in Zukunftsindustrien wie beispielsweise der Pharmazie. Ohnehin müsse in der englischen Wirtschaft, die sehr marktwirtschaftlich orientiert ist, eine Ausrichtung an Netzwerken und Transaktionen – zu sehen auch bei den Financial Services – Gegenstand der Szenario-Planung sein, sagt Hoppe. Was Deutschland auszeichne, die technische Stärke im Mittelstand, „können sie nicht“.
Ein wenig Schweiz zu spielen oder „ein bisschen offshore“ zu handeln, sei den Engländern ebenfalls nicht möglich. Eine Hinwendung zu den Commonwealth-Staaten sei denkbar, vielleicht werde es einen „quick-and-dirty“-Deal, so nennt er es, mit den USA und Trump geben, „der den Deutschen dann als Freihandels-Abkommen verkauft wird“.
Das Bild des Königreichs, das der Chef der Außenhandelskammer in dem einstündigen Gespräch zeichnet: Einerseits die große Nation, der die Welt offen steht, zugleich auch das der skurrilen Überlebenskünstler. Trotz ihrer Europa-Skepsis hätten sie nicht in allen EU-Fragen auf Sonderlösungen gedrängt – verglichen mit den Deutschen seien die Briten „Musterknaben bei der Umsetzung von Regularien“. Deshalb: „Wenn wir als Europäer uns nicht reformieren, sind wir ohne die Briten schwächer“. Deutschland exportiere zwar Waren im Wert von 90 Mrd. auf die Insel, umgekehrt importiere es auch für 40 Milliarden Euro jährlich von dort. „Es bleibt ein spannender Markt“, sagt Hoppe, der hier in den nächsten Jahren erhöhten Beratungsbedarf für seine Kammer sieht. Bei ihm sei mit der vergebenen Chance durch den Brexit „eine gewisse Distanz“ zu seinem Gastland entstanden, aber „mein Job macht ja Spaß“. Die Steilvorlage für die letzte Frage, ob er London demnach nicht überdrüssig sei, beantwortet er, wie es das Sprichwort vorsieht: „Nein, Sie wissen ja, ein Mann, der müde von London ist, ist lebensmüde.“
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Die Zielflagge der London-Woche weht an einem Ort, den man nur als eingeladener Gast betreten darf, der Traditionen auf ur-englische Weise pflegt und Business mit Vergnügen, Diskurs mit Genuss mischt: Im opulenten Royal Automobile Club. Nahe der Trafalgar-Säule treffen sich Gentlemen seit 120 Jahren, Frauen sind auch längst zugelassen, es gibt einen Dresscode, der Anzug vorschreibt, für einige Bereiche auch Krawatte. Im ovalen Entrée drinnen steht ein historischer Ferrari, das jeweilige Schaufahrzeug wird alle zwei Wochen gewechselt. Die Bars, die Restaurants, auch die Bibliothek und Sport-Möglichkeiten, darunter ein 25-Meter-Hallenschwimmbecken und eine endlose Reihe von Squash-Boxen, hinterlassen den Besucher vom Festland staunend.
Eingeladen hat Nicholas Stanforth, der von Stockach am Bodensee aus ein deutsch-britisches Beratungsunternehmen führt. Bei vorzüglichem Fisch, Leber und einer internationalen Weinauswahl samt britischer Tropfen, dreht sich das Gespräch um die jüngsten Erlebnisse in der Hauptstadt. Für Stanforth war das die Teilnahme an einer Konferenz zum Thema Risikokompetenz. Referenten waren Normalbürger, Extremsportler, Wissenschaftler, aber auch ein Pilot, der mit bloßen Händen einen psychisch kranken Selbstmordattentäter überwältigt hat und damit 398 Menschen, darunter Popstar Bryan Ferry, das Leben gerettet hat.
Was das mit dem London-Südbadener Stanforth zu tun hat? Nun, als Coach fordert Stanforth Tag für Tag EU-Kundschaft in Süddeutschland, Frankreich und England dazu auf, ein bisschen Risiko als Chance zu betrachten. Das Motto seines Unternehmens: „Die Leute dazu bringen, ihren Job zu lieben“. Kein Optimierer und Rausschmeißer, sondern ein smarter Motivator, der die Erfahrung eines ehemaligen Aikido-Sportlers mitbringt. Und dabei gelernt hat, dass es sich nicht immer lohnt, realistische Ziele zu setzen – sondern Zufriedenheit gerade dann entsteht, wenn unrealistische erfüllt werden können.
Nicht nur deshalb hofft auch er auf den „soft Brexit“. Im gediegenen Club-Ambiente, das auf britische Weise edel, aber auch unkompliziert und egalitär erscheint, sobald man hinter den schweren Türen sitzt, ist der Brexit an diesem Abend scheinbar kein Thema. Auch hier herrscht eine „wird-schon-gutgehen“- und „Leben geht weiter“-Stimmung, die das Wirtschaftsklima in England trotz aller Warnsignale auszeichnet. Das Grundgefühl dieses so sympathischen wie verwirrten Landes bringt die Musikauswahl auf den Punkt. Ein älterer Herr haucht im Hintergrund des Restaurants Pop-Klassiker in die Tasten eines Flügels, in schöner Zufalls-Reihenfolge: „We are the Champions“, „All you need is love“, „God only knows“. Die ziemlich gelungene Variation jener Atmosphäre, die die Briten der deutschen Wirtschaft, auch der südbadischen, gerade darbieten.