Rohstoffe sind die Basis unserer materiellen Welt. Wie komplex und weltweit verflochten ihre Gewinnung und wie schwierig die Wende zu erneuerbaren Ressourcen ist, zeigen ein ausgezeichnetes Buch – und Projekte am Oberrhein.
Text: Kathrin Ermert • Foto: Santiago Fanego
Wenn man zu Rohstoffen recherchiert, beginnt man, Produkte mit einem neuen Blick zu betrachten: Welche Ressourcen waren nötig, um all die glitzernde Weihnachtsdeko herzustellen, die jetzt überall Schaufenster und Auslagen schmückt? Schon für eine Zeitschrift wie Netzwerk Südbaden umfasst die Zutatenliste mehr als ein Dutzend Posten – vom Zellstoff beziehungsweise Holz fürs Papier über Kreide, Kaolin (Porzellanerde) und andere Stoffe für den sogenannten Strich bis zu den Harzen, Ölen, Pigmenten und weiteren Bestandteilen der Druckfarbe sowie den Stabilisatoren, Wachsen und Bindemitteln des Leims für die Klebebindung. Das Aluminium der Druckplatten und die Energie, um die Maschinen zu betreiben, nicht mal mitgerechnet.
Ob Zeitschrift, Deko, Kleidung, Elektrogerät, Zahnpasta, Sportartikel, Auto, Maschine oder sonstige Produkte: Am Anfang aller Herstellungs- und Lieferketten stehen Rohstoffe. Mineralische, metallische, fossile oder nachwachsende, endliche oder erneuerbare. „Natürliche Ressourcen bezeichnen die materiellen, energetischen und räumlichen Grundlagen unseres Lebensstandards“, definieren die beiden Geologinnen der Uni Freiburg, Annika Mattissek und Sara Faßbender, im Lehrbuch „Ressourcen“. Und weiter: „Sie sind die natürlichen Elemente, die durch Eingriff des Menschen in die Umwelt einem Wirtschaftskreislauf zugeführt werden.“
Die materielle Welt
Diese im Wortsinn elementare Bedeutung von Rohstoffen haben die Krisen der vergangenen Jahre gezeigt: die Pandemie, die zeitweilig die globalen Lieferketten unterbrach, der russische Angriffskrieg auf die Ukraine, der die große Abhängigkeit von fossilen Rohstoffen offenbarte, und die fortschreitende Klimaveränderung, die eine Reduzierung der CO2-Emissionen erforderlich macht. Während der Coronazeit wurde etwa das im Wesentlichen aus Silizium und Bor bestehende Borosilikatglas knapp, weil dieses besonders widerstandsfähige Material für Impfstoffe eingesetzt wird. Dieses Beispiel stammt aus dem Werk „Material World. Wie sechs Rohstoffe die Geschichte der Menschheit prägen“, für das Ed Conway jüngst den Deutschen Wirtschaftsbuchpreis erhalten hat.
Der in London lebende Journalist und Autor beschreibt, wie sich Rohstoffe in hochentwickelte Produkte verwandeln. Dafür reiste er um die Welt, stieg in Steinbrüche und Minen, besuchte Stahlwerke, Chemiefabriken sowie Batterieproduktionen und blickte tief in eine ihm bis dahin unbekannte Welt – die titelgebende „Material World“. Das Fundament unseres Alltags, ohne das es weder Handys noch Autos oder Häuser gäbe. Conways Recherchen zu Nutzungen und Abhängigkeiten von Rohstoffen ergeben ein komplexes, globales Geflecht, das sich kaum entwirren lässt. Zum Beispiel fährt Eisenerz von Australien nach China, wird dort erst zu Stahl und in Europa dann zu Legierungen verarbeitet, die wiederum – gepresst, gehärtet und zur Karosserie eines Autos geformt – über den Atlantik verschifft werden.
„Während wir als Bewohner der immateriellen Welt unseren Verbrauch an fossilen Brennstoffen zurückfahren, haben wir unseren Verbrauch an allen anderen verdoppelt.“
Aus: Material World, Ed Conway
Conway entlarvt die verbreitete Idee, dass wir in einer zunehmend entmaterialisierten Welt leben, in der immer mehr Werte in immateriellen Dingen wie Apps, Netzwerken oder Onlinediensten stecken, als Mythos. Der materielle Konsum habe sich lediglich von den postindustriellen Ländern auf die andere Seite der Welt verlagert. Tatsächlich brauchen wir, um unsere Umweltziele zu erreichen, um E-Autos, Windräder oder Solarzellen herzustellen, mehr Metalle als je zuvor. Durch die Rohstoffbrille betrachtet ist ein Windpark ein Bauwerk aus Glas, Eisen, Kupfer sowie Öl mit einer Prise Salz: Eine Massenproduktion von Windrädern oder Solarzellen wäre ohne endliche Rohstoffe nicht möglich. Dabei sind fossile Brennstoffe nicht mal die wichtigsten Ressourcen. Seit jeher machen sie nur einen Bruchteil der gesamten Rohstoffmenge aus, die wir aus der Erde holen. Auf jede Tonne fossiler Brennstoffe kommen sechs Tonnen anderer Materialien, vor allem Sand und Gestein, Metalle, Salze und Chemikalien. „Während wir als Bewohner der immateriellen Welt unseren Verbrauch an fossilen Brennstoffen zurückfahren, haben wir unseren Verbrauch an allen anderen verdoppelt“, schreibt Conway.
Rohstoffe in der Region
Die Lektüre von „Material World“ macht klar: Rohstoffe sind ein globales Thema. Doch sie spielen auch hier in der Region eine wichtige Rolle, wie die Karte der noch betriebenen „Rohstoffgewinnungsstellen“ in Südbaden belegt, die in der aktuellemn Ausgabe zeigen. An Dutzenden Orten im Land werden Ressourcen gefördert: verschiedene Steine, auch Salz sowie Säure, doch vor allem Sand und Kies. Das Oberrheintal beherbergt die größten Kiesvorkommen Europas. Sie reichen von knapp unterhalb der Erdoberfläche bis in eine Tiefe von 120 Metern und werden seit Langem genutzt. Früher hatte fast jede Gemeinde entlang des Oberrheins eine Kiesgrube, mehr als 300 Baggerseen zeugen davon.
Die Anzahl der Kiesabbaustätten indes hat in den vergangenen Jahrzehnten ab-, die abgebaute Menge pro Kieswerk parallel zugenommen. Der hohe Genehmigungsaufwand, die „Flut an Anforderungen und Nachweisen“ seien Gründe dafür, sagt Michael Knobel von der Initiative Kieswirtschaft im Dialog am Oberrhein, die zum baden-württembergischen Industrieverband Steine und Erden gehört. Überhaupt hat Regulierung dazu geführt, dass hierzulande heute weniger Rohstoffe gefördert werden als vorhanden sind. Umwelt- und Sozialstandards haben den Bergbau verteuert und in andere Teile der Welt verdrängt. Die Folge: Deutschland und Europa sind bei vielen mineralischen Rohstoffen auf Importe aus anderen Teilen der Welt angewiesen. Laut dem Bundesverband der deutschen Industrie (BDI) ist die Abhängigkeit größer als sie es bei russischem Erdöl und -gas war. Die EU will der Rohstoffdominanz von China oder den USA mit dem „Critical Raw Material Act“ begegnen. Der soll Recycling (Stichwort: Urban Mining) fördern und den Abbau in Europa reaktivieren.
Das betrifft auch Südbaden. Hier gibt es beispielsweise mehrere Ansätze, Lithium zu gewinnen. Denn im Oberrheingraben liegen nicht nur viel Sand und Kies, sondern vermutlich auch das größte europäische Lithiumvorkommen. Die Karlsruher Firma Vulcan Energie Ressourcen GmbH betreibt seit einigen Jahren eine Pilotanlage in der Ortenau, um die Vorkommen an Lithium, Sole und Erdwärme zu erkunden. Lithium kommt in Thermalwasser vor und kann quasi als Beifang der Geothermie gewonnen werden. An neuen Verfahren dafür forscht auch das Fraunhofer Institut für Solare Energiesysteme (ISE), das vor wenigen Wochen das Projekt „ThermIon“ gestartet hat. Lithium ist laut der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe der Schlüsselrohstoff der Verkehrswende. Das Leichtmetall kommt insbesondere in Lithium-Ionen-Batterien für E-Autos zum Einsatz.
Risiken des Wandels
Lithium spielt auch in Ed Conways „Material World“ eine wesentliche Rolle. Es ist, neben Sand, Salz, Eisen, Kupfer und Öl, einer der sechs Rohstoffe, denen er je ein Kapitel widmet. Warum diese sechs? Es seien nicht die einzig wichtigen Rohstoffe, aber sie könnten stellvertretend für andere als Grundlage des modernen Lebens stehen: Aus Sand beziehungsweise Silizium entstehen Zement, Beton, Asphalt, Computerchips oder Glas. Mit Salz lassen sich Dinge umwandeln, und es ist ein Faktor für Gesundheit sowie Ernährung. Eisen ist mit der Geschichte der Kohle und somit fossilen Brennstoffen verbunden, Kupfer das Medium der Elektrizität. Erdöl und -gas stehen für den Antrieb vergangener industrieller Revolutionen, Lithium für die Energiewende von fossilen zu erneuerbaren Ressourcen.
Conway versteht es, die umfangreichen Zusammenhänge, die er recherchiert hat, als spannende Geschichten zu erzählen, um einem die komplexe Herausforderung der leichthin geforderten Energie-, Mobilitäts- oder anderer Wenden eindrücklich vor Augen zu führen. „Die Kohlenstoffemissionen zu beseitigen, bedeutet, die industrielle Revolution neu zu denken, nahezu alle Prozesse in der materiellen Welt auf den Prüfstand zu stellen“, schreibt er und benennt die Risiken: politische Widerstände, Handelskonflikte und vor allem ein menschliches Dilemma: Generationen heute müssen einen Teil ihres Lebensunterhalts der Zukunft opfern. Denn die meisten von uns werden den Break-even des gestoppten Klimawandels nicht erleben.