Über den Begriff Zeit wird viel philosophiert. Besser ist es, mit einem Philosophen darüber zu sprechen. Andreas Urs Sommer von der Uni Freiburg über die Zeit und was sie in der Pandemie mit sich bringt.
INTERVIEW: DANIEL RUDA
Herr Sommer, wenn man sich Gedanken um den Begriff der Zeit macht, dann wird es schnell abstrakt.
Sehr abstrakt sogar. Philosophen tun sich seit mehr als 2500 Jahren schwer damit, ihn zu definieren. Den meisten geht es so wie dem Heiligen Augustinus, dem Kirchenvater und Philosoph aus dem vierten und fünften Jahrhundert. Er meinte, immer, wenn er nicht danach gefragt werde, wisse er ganz genau, was Zeit ist. Sobald er aber die Frage beantworten müsse, falle es ihm unheimlich schwer, eine Definition zu finden. Mir geht es auch so.
Wo landen Sie auf der Suche nach der Antwort?
Sicher nicht da, wo Augustinus gelandet ist. Er bezieht die Zeit in seinen „Bekenntnissen“ auf die Ewigkeit Gottes. Für ihn ist Zeit erst mit der göttlichen Weltschöpfung entstanden, Gott jedoch sei der Zeit enthoben.
Dieser Zugang ist heutzutage etwas schwierig, weil wir Augustinus‘ metaphysische Voraussetzungen kaum mehr teilen. Noch immer aber beinhaltet das Nachdenken über die Zeit die Erkenntnis von der Endlichkeit des Menschen. Unsere Lebens- zeit ist begrenzt, das ist eine schmerzliche Erfahrung – aber, entgegen der religiösen Ewigkeitssucht, auch eine entlastende Erfahrung: Es kann tröstlich sein, nicht ewig leben zu müssen.
Corona ist für viele ebenfalls eine schmerzliche Erfahrung, die nun schon ein Jahr anhält. Die Pandemie bringt für viele Menschen ein verändertes Zeitbewusstsein mit sich. Was macht das mit der Gesellschaft?
Corona lehrt uns, ganz neu mit der Zeit umzugehen, die ja auch eine große soziale Komponente in sich trägt, und die verliert sich gerade. Die Erfahrung, Zeit nicht mit anderen kollektiv teilen zu dürfen, abgesehen von Partnern und Kindern ist für uns gänzlich ungewohnt. Das subjektive Zeiterleben ist dabei natürlich höchst unterschiedlich. Die Pandemie ist ja nicht die große Gleichmacherin, auch wenn alle davon betroffen sind. Manche Menschen sind hochgradig privilegiert, weil sie sich zum Beispiel keine Sorgen um ihre Existenz machen müssen. Sie können ihre Zeit besser nutzen, während andere jetzt freie Zeit haben, die sie gar nicht haben wollen, weil sie um ihre Anstellung fürchten. Ich habe da den Eindruck, dass es für viele Menschen außerordentlich schwierig ist, mit dem Rohmaterial Zeit umzugehen, wenn sie sie nicht vorgetaktet bekommen, von eingespielten und fremdverordneten Arbeits- und Freizeitabläufen.
“Ich habe da den Eindruck, dass es für viele Menschen außerordentlich schwierig ist, mit dem Rohmaterial Zeit umzugehen, wenn sie sie nicht vorgetaktet bekommen”
Andreas urs sommer
Mir scheint nach einem Jahr Pandemie ein Ohnmachtsgefühl weit verbreitet zu sein, und das sucht nach Auswegen. Ich wage mal die politisch-philosophische Mutmaßung, dass nach Corona ein verstärkter Willen nach einer direkten demokratischen Partizipation zu verspüren sein wird. Dass die Men- schen sich nicht nur alle paar Jahre an der Wahlurne politisch beteiligen wollen, sondern stärker in Sachentscheidungen ein- bezogen werden wollen.
Wir unterhalten uns aus unserem jeweiligen Homeoffice. Ein Beispiel dafür, wie Corona die Arbeitswelt und auch die Arbeitszeit der Menschen verändert hat. Hat die Pandemie bei allem Schlechten da mal einen Fortschritt erwirkt?
Das würde ich so sehen. Meine Hoffnung im Blick auf den Arbeitsalltag der Zukunft nach Corona wäre, dass wir die Freiheit, die wir im Umgang mit der Zeit gewinnen, hinüberretten können. Dass Arbeitgeber lernen, dass ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen genauso produktiv sind, wenn sie eine eigene Verfügungsmacht ihrer Zeit bekommen, wie das im Homeoffice der Fall ist.
Dass es derzeit fast keine Trennung mehr zwischen privater und beruflicher Zeit im Homeoffice gibt, ist aber auch problematisch. Dadurch betreiben viele Leute Raubbau an sich selbst, weil sie zum Teil noch mehr und länger arbeiten als sonst. Sie haben fast ein schlechtes Gewissen, wenn sie zu Hause sind und während der eigentlichen Arbeitszeit mal nicht am Laptop sitzen.
Was meinen wir, wenn wir das Sprichwort “Zeit ist Geld” benutzen?
Das ist heutzutage, wenn wir von einem kapitalismuskritischen Geist beseelt sind, ein Ausspruch, der uns provoziert. Es scheint ja die Vorurteile zu bestätigen, dass sämtliche Lebensverhältnisse auf das Ökonomische reduziert werden. Der Satz „Zeit ist Geld“ ist von Benjamin Franklin geprägt worden, er hat ihn im Jahr 1748 jungen Kaufleuten mit auf den Weg gegeben, damit aber eine andere Bedeutung assoziiert. Es ist der Ratschlag, die Zeit wertzuschätzen. Sie ist ja ein knappes Gut. Die Gleichsetzung mit Geld hat einen tieferen philosophischen Sinn, denn auch Geld ist ja hochgradig abstrakt und ist ein universelles Tauschmittel: Zeit können wir ebenso wie Geld für alles Erdenkliche ge- und verbrauchen. Wir sollten dieses Sprichwort jedenfalls nicht vorschnell als Ausdruck neoliberaler Zeitgeist-Attitüde verurteilen. Zeit ist etwas, was einem wie Geld zwischen den Fingern verrinnen kann. Diese Erfahrung haben wir alle schon gemacht.
Von welchen Philosophen können wir etwas über das Phänomen der Zeit erfahren? Gehört etwa der Freiburger Martin Heidegger dazu, dessen Hauptwerk den Titel „Sein und Zeit“ trägt?
Heidegger hat sich sehr stark auf die Zeitlichkeit des Menschen kapriziert. Die Bedingungen der menschlichen Existenz als Bedingungen in der Zeit hat er scharf herausgearbeitet. Ich bin allerdings nicht der Auffassung, dass Heidegger der Philosoph ist, den wir in der Gegenwart zu Rate ziehen sollten. Seine Art von atemloser Entschlossenheitsphilosophie in „Sein und Zeit“ klingt für mich zu sehr nach rastlosem und in gewisser Weise auch inhaltlosem Aktivismus. Der spätere Heidegger hat da übrigens auch schon ganz anders gedacht, wird dann aber mystisch. Mir jedenfalls liegen die Philosophen näher, die auf die Zeitlichkeit des Menschen illusionslos reflektieren und nicht versuchen, parareligiöse Auswege zu finden, die die Menschen über die Begrenztheit der eigenen Zeitlichkeit hinwegtrösten sollen. Dazu fällt mir etwa Michel de Montaigne ein, der Erfinder der Form des Essays. Er sprach sich dafür aus, dass man gerade die Beschränktheit der eigenen Zeit als Ansporn empfinden sollte, etwas aus ihr zu machen.
Zum Abschluss noch ein Sprichwort: Kommt Zeit, kommt Rat. Stimmen sie zu?
Dass sich der Rat mit der Zeit einstellt, sagt Goethe in einem seiner Epigramme. Er schreibt: „Wer will denn alles gleich ergründen. Sobald der Schnee schmilzt, wird sich’s finden. Hier hilft nun weiter kein Bemühen. Sind’s Rosen, nun, sie werden blühen“. In der Tat sollten wir der Auffassung abschwören, dass wir alles hier und jetzt entscheiden müssen, und uns selbst unter Zeitnot setzen, weil sonst die Welt untergeht. Sondern es ist sehr oft so, und das kann man aus der Corona-Zeit mitnehmen: Man kann sich auch mal Zeit lassen. Eine gewisse Gelassenheit ist keine schlechte Lebensmaxime. Vielleicht lernen wir auch durch diese Pandemie, dass wir Zeit nicht wie eine Zitrone auspressen müssen, sondern die Zeit selber ihre Wirksamkeit entfalten lassen. Vielleicht kommt der Rat dann, vielleicht brauchen wir ihn aber auch gar nicht mehr.
Prof. Dr. Andreas Urs Sommer lehrt an der Uni Freiburg Philosophie mit Schwerpunkt Kulturphilosophie und ist geschäftsführender Direktor des Nietzsche-Forschungszen- trums der Uni, das einen eigenen Youtube-Kanal hat. Er hat eine Reihe Bücher für ein allgemeines Publikum geschrie- ben, darunter etwa „Die Kunst der Seelenruhe“. Seine Zeit in der Pandemie hat der 48-Jährige „zu viel fürs Lesen und Schreiben und zu wenig fürs Spazierengehen genutzt“.
Dieser Text erschien zuerst in der Printausgabe vom März 2021. Zum Abo geht es hier.