Der Freiburger Islamwissenschaftler und Autor Abdel-Hakim Ourghi setzt sich für einen aufgeklärten Islam ein. Das gefällt nicht allen.
VON KATHRIN ERMERT
Samstags ist er immer gern mit seiner Familie in die Stadt gegangen, sie sind durch Geschäfte gebummelt, vielleicht ins Kino gegangen, haben etwas gegessen. Das macht Abdel-Hakim Ourghi seit Ende Mai vergangenen Jahres nicht mehr. Denn seit sein jüngstes Buch erschienen ist, haben die Bedrohungen wieder zugenommen. „Die Juden im Koran. Ein Zerrbild mit fatalen Folgen“ lautet dessen Titel, der mit Ausbruch des Krieges in Israel eine traurige Aktualität bekommen hat.
Ourghi kennt das schon. Der aus Algerien stammende Islamwissenschaftler, der seit 2011 an der Pädagogischen Hochschule (PH) in Freiburg lehrt, hat mehrere Bücher geschrieben, von denen konservative Muslime sich angegriffen fühlen. Über die Reform des Islam, über das Streitthema Kopftuch und jetzt über das schwierige Verhältnis von Muslimen und Juden. Jedes Mal schwappten Empörung und Bedrohung hoch, beruhigten sich aber wieder, ehe das nächste Werk erschien. Daran hatte Ourghi sich gewöhnt. Doch seit Herbst 2022 fühlt sich die Dauerbedrohung weniger abstrakt an. Das Attentat auf den britisch-indischen Schriftsteller Salman Rushdie habe ihm „wirklich die Augen geöffnet“, sagt Ourghi: „Die Fatwa war aus dem Jahr 1989, und 2022 wurde Rushdie angegriffen.“ Viele hätten wie er gezweifelt, dass sie wirklich in die Tat umgesetzt wird. Zumal eine Fatwa – anders als häufig gesagt wird – strenggenommen kein Todesurteil, sondern eine Art Rechtsgutachten im Islam ist.
Mit Polizeibegleitung
Ourghi beunruhigt das Attentat auf Salman Rushdie insbesondere, weil er selbst betroffen ist. Er ist einer der Gründer der liberalen Moschee in Berlin, über die die ägyptische Fatwa-Behörde 2017 schrieb: „Tötet sie, bevor sie sich vermehren.“ Und laut Ourghi haben die Sicherheitsbehörden auch eine Gruppe von Islamisten entdeckt, die einen Anschlag planten. „Das macht mir in der letzten Zeit richtig Angst“, sagte Ourghi beim Interview kurz vor Weihnachten in seinem kleinen Büro in der PH. Er habe zwar keinen Personenschutz – „so ein Leben will ich nicht“ – aber sobald er außerhalb Freiburgs zu Vorträgen unterwegs ist, begleitet ihn immer die Polizei.
„Die Rede nach außen ist eher friedlich und betont die interreligiöse Begegnung. Doch hinter den Kulissen wird anders gepredigt.“
Abdel-Hakim Ourghi
Das bedeutet nicht, dass es in der Region weniger konservative oder gar radikale Muslime gibt. Ourghi hat nach dem Ausbruch des Kriegs zwischen Israel und der Hamas in Freiburg und Karlsruhe Demonstrationen der Bewegung „Palästina spricht“ angeschaut, um die Stimmung aus nächster Nähe zu erleben. Und er besucht einmal pro Woche den Islamunterricht der Albert-Schweitzer-Schule in Landwasser. Seine Beobachtung: Die Mehrheit der Muslime sei zwar liberal, doch der Antisemitismus sehr verbreitet in allen Schichten der muslimischen Gemeinden, nicht nur unter einfachen Menschen sondern ebenso unter Intellektuellen. Und auch an Schulen.
Es gebe nur wenige liberale Muslime, die denken, dass Israelis und Palästinenser in Frieden miteinander leben können. Viele hörten das ungern, weil die Mehrheit der Muslime die Opferrolle pflege, beobachtet Ourghi. „Wenn ich sage, unsere Probleme in der islamischen Welt sind hausgemacht und weder Israel noch der Westen tragen Verantwortung dafür, fühlen sie sich und ihre Religion angegriffen.“
In den islamischen Gemeinden und bei deren Imamen sieht der Wissenschaftler zweierlei Verhalten: „Die Rede nach außen ist eher friedlich und betont die interreligiöse Begegnung. Doch hinter den Kulissen wird anders gepredigt.“ Auch in Freiburg gibt es einige Moscheen, die der Verfassungsschutz beobachtet, zum Beispiel das Islamische Zentrum im Stühlinger, das zu Millî Göruş gehört, und die arabische Moschee in der Habsburger Straße.
Tabuthemen ansprechen
Dass er bedroht wird, mindert Ourghis Engagement für einen liberalen Islam nicht. Im Gegenteil: Es bestärkt ihn eher: „Wenn ich jetzt aufgeben würde, habe ich nichts erreicht“, sagt der Theologe. „Ich habe diesen Drang zur Aufklärung. Die Drohungen dürfen uns nicht zum Schweigen bringen. Man muss das positiv betrachten: dass man das Richtige macht.“ Dabei helfe der Austausch mit anderen kritischen Muslimen wie beispielsweise dem palästinensischen Israeli Ahmad Mansour, zu dem er Kontakt hat. „Mir geht es nicht darum, die eigene Religion zu diffamieren oder sie abzulehnen“, sagt Ourghi. Seine Kritik sei vielmehr „eine Liebeserklärung an die Muslime“ und der Versuch, den Islam zeitgemäß sowie kompatibel mit westlichen Werten zu machen.
“Ich bin überzeugt, „dass muslimische Studierende, die bei uns abschließen, das Gedankengut des aufgeklärten Islam mitnehmen.“
Ourghi setzt auf die nächsten Generationen, die jüngeren Muslime. Die erreiche er zum einen mit seinen Büchern, weil sie sich dafür interessierten, was über ihre Religion geschrieben wird. Und er kann als Professor an der PH etwas bewirken. Er spricht in seinen Seminaren Tabuthemen wie die Gewalt in der Geschichte des Islam an und arbeitet textkritisch mit dem politisch-historischen Kontext der Koranverse. „Das kommt bei den meisten sehr gut an und bringt auch die anderen zum Nachdenken“, sagt Ourghi. Seinetwegen haben die islamische Religionspädagogik und Theologie einen liberalen Ruf. Die Studierenden wissen das und kommen gezielt nach Freiburg. Ourghi ist überzeugt, „dass muslimische Studierende, die bei uns abschließen, das Gedankengut des aufgeklärten Islam mitnehmen.“
Die islamische Theologie ist ein kleines Fach an der Freiburger PH: Aktuell lassen sich 27 Studierende hier für den islamischen Religionsunterricht ausbilden. Zum Vergleich: 151 sind es in der katholischen und 111 in der evangelischen Theologie an der Freiburger PH. Sie bildet Lehrerinnen und Lehrer für den muslimischen Religionsunterricht an Grund-, Real- und Werkrealschulen aus, ebenso wie die Pädagogischen Hochschulen Karlsruhe, Weingarten und Ludwigsburg. Wer an Gymnasien islamische Religion unterrichten will, kann nur in Tübingen studieren.
Eine Frage der Zeit
Seit 2006 gibt es islamischen Religionsunterricht an baden-württembergischen Schulen, aber noch längst nicht an allen. Im Regierungsbezirk Freiburg nur an 13 von 900 Schulen. Ein Problem: „Wir haben weniger Absolventinnen und Absolventen als nötig“, sagt Ourghi. Ein anderes: Viele Eltern wüssten nichts von dem Angebot. Eigentlich kann eine Schule mit mindestens acht muslimischen Schülerinnen und Schülern islamischen Religionsunterricht etablieren, wenn die Eltern das wollen.
„Es ist nur eine Frage der Zeit, bis es Islamunterricht an mehr Schulen gibt“, glaubt Ourghi. Er ist optimistisch, obwohl er zwischenzeitlich die angehenden Islamlehrerinnen und -lehrer nicht selbst ausbilden durfte. Die Stiftung des sunnitischen Islam, die sich 2019 auf Initiative des baden-württembergischen Kultusministeriums gegründet hat, verweigerte ihm die Lehrerlaubnis aufgrund seines liberalen Ansatzes. Doch Ourghi, der 2017 die 40 Thesen seines Buchs „Reform des Islam“ öffentlichkeitswirksam an die Tür der Berliner Moschee nagelte, weiß die Medien für sich zu nutzen. „Weil viele Journalisten darüber geschrieben haben, kam zwei Jahre später die Entscheidung, dass ich wieder unterrichten darf“, erzählt er. Er ist selbst Sunnit, gehört aber zur malikitischen Rechtsschule, die in Nordafrika verbreitet ist, während die Stiftung Hanafiten, Schafiiten und Hanbaliten vertritt. Ourghi plädiert dafür, den Islam in Deutschland weder zu separieren noch zu organisieren: „Das ist der Versuch, den Islam zu christianisieren“. Die Trennung zwischen Sunniten und Schiiten sei in den Schulen nicht vorhanden. „Die Muslime zu organisieren, ist keine Lösung. Die Lösung liegt in der Aufklärungsarbeit.“