In vielen Regionen im Südwesten fehlen Kinderärztinnen und -ärzte. Niedergelassene nehmen keine Neupatienten mehr an, viele machen ohne Nachfolger zu, mancherorts gibt es schon lange keine einzige Praxis mehr. Besonders dramatisch ist die Lage im Hochschwarzwald. Andreas Kreft geht einen neuen Weg: Der Chef der Wiki Kinderarztpraxis aus Freiburg eröffnet eine Dependance in Titisee-Neustadt.
Text: Julia Donáth-Kneer
Eltern wissen: Wenn der Nachwuchs krank ist, sollte es schnell gehen. Niemand will mit einem hoch fiebernden, geschweige denn mit einem sich permanent übergebenden Kind lange im Auto sitzen. Doch manche Familien haben keine andere Wahl. „Zu uns kommen Patientinnen und Patienten aus einem immer größer werdenden Radius“, berichtet Andreas Kreft. Der 58-jährige Kinderarzt hat vor zehn Jahren die Wiki Kinderarztpraxis im Freiburger Stadtteil Wiehre eröffnet. Dorthin kommen mittlerweile viele verzweifelte Familien, die keinen Kinderarzt mehr in Wohnortnähe finden und daher Anfahrtswege von vielen Kilometern und teilweise mehr als einer Autostunde auf sich nehmen. Das ist bei einem grippalen Infekt ärgerlich, für Unvorhergesehenes bei Neugeborenen oder bei chronisch erkrankten Kindern aber mitunter dramatisch.
Woran liegt der Kinderarztmangel in der Region und anderswo, obwohl es laut aktuellen Statistiken insgesamt mehr zugelassene Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzte gibt? Das hängt zum einen damit zusammen, dass viele heutzutage in Teilzeit arbeiten oder als Angestellte in größeren Praxen beschäftigt sind. Das führt zu einer Schieflage: Momentan sind in Deutschland viele Kassensitze für Kinder- und Jugendärzte unbesetzt. Die Lage ist dabei regional deutlich unterschiedlich. Insgesamt sind bundesweit 216,5 Niederlassungen offen, davon fehlen allein Baden-Württemberg 32,5 Praxen. Statistisch gesehen kümmert sich ein kassenärztlicher Sitz im Schnitt um rund 6000 kleine Patientinnen und Patienten. Schließt eine oder schließen gar zwei Praxen in einem Umkreis, ohne einen Nachfolger zu finden, stehen auf einen Schlag mehrere tausend Kinder ohne ärztliche Versorgung da.
Von der Stadt auf den Berg
So geschehen in Titisee-Neustadt vor rund zwei Jahren, als dort der letzte niedergelassene Kinderarzt in Rente ging. Da sich niemand fand, der den Kassensitz übernehmen wollte, gibt es momentan zwischen Kirchzarten und Villingen-Schwenningen und von Furtwangen bis Bonndorf keine Kinderarztpraxis mehr. „Damit sind große Teile des Hochschwarzwaldes unterversorgt“, warnt Andreas Kreft. Die Folge: „Familien aus Furtwangen, Löffingen, Todtnau fahren bis nach Freiburg oder in die Ortenau.“
Auf Anregung der Oma eines seiner jungen Patienten hat er sich nun mit der Gemeinde Titisee-Neustadt zusammengetan und will Mitte 2025 einen Ableger der Wiki Kinderarztpraxis in Neustadt gründen. Er trat mit der Idee an Bürgermeister Gerrit Reeker an, der sofort überzeugt war: „Zusammen entwickelten wir die Idee, ein gemeinsames Team von Kinderärztinnen und -ärzten und medizinischen Fachangestellten sowohl in Freiburg als auch in Titisee-Neustadt arbeiten zu lassen“, erklärt Kreft, der damit das Übel an der Wurzel packt.
Denn der Grund, warum viele Praxen ohne Nachfolger schließen, hat wenig mit der Region zu tun, erläutert Kai Sonntag, Sprecher der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg (KV): „Wir haben kein Stadt-Land-Thema, sondern ein strukturelles Problem. Der Bedarf steigt, weil es wegen stärkerer Geburtenjahrgänge und Zuwanderung mehr Kinder in Baden-Württemberg gibt und die Ärzte insgesamt mehr Zeit für die Behandlung aufbringen müssen.“ Gleichzeitig lassen sich viele Ärztinnen und Ärzte lieber anstellen oder arbeiten in Teilzeit als eigene Praxen zu eröffnen. Die Suche nach einem Nachfolger sei daher generell schwierig, nicht nur in ländlichen Regionen.
Das versteht Andreas Kreft gut, der früher in Dänemark und der Schweiz praktiziert hat. „Viele jüngere Ärztinnen und Ärzte scheuen das unternehmerische Risiko, das mit dem Führen einer Praxis einhergeht, die große Arbeitsbelastung und den hohen bürokratischen Aufwand“, sagt Kreft, der momentan neun Leute beschäftigt, davon zwei weitere Ärztinnen. „Viele sind in einer Lebensphase, in der sie selbst kleine Kinder haben und einen Job mit geregelten Arbeitszeiten und genügend Zeit für die eigene Familie wollen. Eine selbständig geführte Praxis lässt dafür keinen Spielraum.“
Deshalb kommt Krefts Idee nun auch so gut an. Er hat mir nichts, dir nichts zwei junge Teammitglieder gefunden: eine Ärztin, einen Arzt. Und er will zusätzlich medizinisches Fachpersonal für die zweite Praxis einstellen. Andreas Kreft hat sich ein Wechselmodell überlegt: Jeder Arzt, jede Ärztin wird einen Tag in Freiburg, einen in Neustadt arbeiten, sodass alle hier und dort vor Ort sind. Das unternehmerische Risiko trägt die Gemeinde Titisee-Neustadt. Er selbst stellt Team, Praxissystem und seine Erfahrung, wird aber kein Geld in Praxis und Ausstattung investieren. Das macht Neustadt, die Gemeinde ist bereits mit der Renovierung der Praxisräume beschäftigt.
„Viele junge Ärztinnen und Ärzte sind in einer Lebensphase, in der sie selbst kleine Kinder haben und einen Job mit geregelten Arbeitszeiten und genügend Zeit für die eigene Familie wollen. Eine selbständig geführte Praxis lässt dafür keinen Spielraum.“
– Andreas Kreft, Kinderarzt
Dort ist man froh, voraussichtlich ab Juni 2025 eine erfahrene und funktionierende Kinderarztpraxis etablieren zu können. „Damit entsteht etwas, das viele Familien hier lange vermisst haben: eine gute und verlässliche medizinische Versorgung für Kinder und Jugendliche direkt vor Ort“, betont Bürgermeister Gerrit Reeker. „Diese Praxis ist unglaublich wichtig, um Titisee-Neustadt als familienfreundliche Stadt weiter zu stärken und unseren Kindern die Versorgung zu bieten, die sie verdienen. Die Zusammenarbeit mit Herrn Kreft sehe ich als einen echten Gewinn für unsere Stadt und die gesamte Region.“
Auch die KV ist happy, die solche Franchisemodelle kennt: „Dass ein Arzt oder eine Ärztin eine Zweitpraxis eröffnet und mit Personal besetzt, ist nicht ungewöhnlich. Es ist gerade in so einer Situation eine gute Möglichkeit, um die Versorgung aufrecht zu erhalten“, sagt Kai Sonntag. „Deshalb begrüßen wir es ausdrücklich, wenn ein Kinderarzt seine Praxis auf diese Weise erweitert.“
Wie die Zweitpraxis heißen wird, weiß Andreas Kreft indes noch nicht. Wiki 1 und Wiki 2 will er sie nicht nennen, damit es nicht wie ein Ranking klingt. „Wiki Stadt und Wiki Berg vielleicht“, überlegt Kreft. Ein paar Monate Zeit bis zur Eröffnung hat er ja noch.