Analysen der Hochschule Offenburg zeigen, dass im Zuge der Energiewende ein erheblicher Zubau an Reservekraftwerken und Batteriespeichern nötig wird – damit das Stromnetz auch Dunkelflauten weiterhin sicher übersteht.
VON BERNWARD JANZING
Die deutsche Energiepolitik sucht drei Herausforderungen auf einmal: Parallel zum Atomausstieg, der erstmals im Jahr 2000 und abermals 2011 beschlossen wurde, steht jetzt auch zeitversetzt der Kohleausstieg an. Und als wäre das nicht der Aufgaben genug, soll in Deutschland auch noch der Stromverbrauch durch Elektroautos und elektrische Gebäudeheizungen drastisch steigen.
Kann das funktionieren? „Nach unseren Szenarien werden wir in Deutschland einen deutlichen Zubau an Gaskraftwerken brauchen“, sagt Professor Niklas Hartmann vom Institut für Energiesystemtechnik an der Hochschule Offenburg. Konkret seien künftig mindestens 60 bis 80 Gigawatt (GW = Millionen Kilowatt) an hocheffizienten Gaskraftwerken nötig – aktuell liegt der Bestand bei rund 30 GW. Damit entspräche die Leistung der neuen Gaskraftwerke etwa jener der wegfallenden Kohlekraftwerke; diese nämlich liefern derzeit noch 44 GW gesicherte Leistung, die spätestens 2038 vom Netz gehen soll.
Die Gaskraftwerke wird man trotz eines vermutlich massiven Ausbaus von Windkraft und Photovoltaik brauchen – als Sicherheit für jene Zeiten, wenn keine Sonne scheint und der Wind nicht bläst. Auch den nötigen Zubau an Kapazitäten der Erneuerbaren kann Hartmann beziffern, basierend auf den Zielen der Bundesregierung zum Klimaschutz: Ein jährlicher Nettozubau (dabei ist der Rückbau von Altanlagen abgezogen) von jeweils 5 bis 15 GW je Technologie – also Photovoltaik und Wind – sei nötig, um Deutschland bis 2050 weitgehend oder sogar komplett klimaneutral zu machen.
Diese Zubaumengen würden – nimmt man die obersten Werte der angegebenen Spanne – alles bisher Dagewesene übersteigen. Die historischen Spitzenwerte der PV lagen in den Jahren 2010 bis 2012 bei sieben bis acht GW jährlich, die Spitzenwerte der Windkraft in den Jahren 2014 bis 2017 bei fünf bis gut sechs GW. Es wäre also ein beispielloser Zubau an Wind und PV nötig, der zudem über eine ganze Menschengeneration von 30 Jahren fortgesetzt werden müsste. Von solchen Ausbaumengen ist Deutschland derzeit aber weit entfernt: Der Neubau von Photovoltaik lag im Jahr 2020 bei knapp 5 GW, die Windkraft an Land kam nur auf 1,4 GW, die Windkraft auf See auf 0,2 GW.
Die Potenziale der Erneuerbaren für große Schritte sind grundsätzlich vorhanden – allerdings nur, wenn die Gesellschaft auch bereit ist, ausreichend Flächen für Windkraft- und Solaranlagen bereitzustellen. Damit dürfte das Thema weiterhin heftige Diskussionen hervorbringen. In der Politik ist stets von zwei Prozent der Landesfläche die Rede, die man für die Rotoren ausweisen will. Das wären in Deutschland gut 7000 Quadratkilometer. Auf diesen Flächen ließen sich 500 Milliarden Kilowattstunden (500 Terawattstunden, TWh) im Jahr erzeugen – das entspricht fast dem heutigen deutschen Jahresstrombedarf. Auf See könnten im Jahr 2030 weitere rund 80 TWh erzeugt werden, 2050 über 200 TWh.
Auch bei der Photovoltaik sind die theoretischen Potenziale riesig – wobei auch hier sich vor allem die Frage stellt, welche massive Veränderung des Landschaftsbildes die Gesellschaft in Kauf zu nehmen bereit ist. Denn im Freiland wären rein technisch mehrere 1000 GW möglich, die von der Menge her ein Mehrfaches des nationalen Strombedarfs decken könnten. Das Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme (ISE) in Freiburg benennt aber auch auf Dächern, an Fassaden und über versiegelten Flächen ein theoretisches Potenzial in einer Größenordnung von 1000 GW, womit sich der heutige Strombedarf im Land in der Jahressumme sogar ohne Freilandprojekte locker decken ließe.
Unterdessen stoßen die anderen Erneuerbaren in Deutschland längst an physische Grenzen. Die Wasserkraft hat ihr Potenzial in großen Teilen ausgereizt. Auch bei der Biomasse sind große Steigerungen nicht mehr absehbar, sofern man nicht Rohstoffe in großem Stil importiert.
Die Geothermie indes dümpelt trotz üppiger Einspeisevergütungen im EEG noch immer bei 0,2 TWh jährlich, also weit unter einem Promille des deutschen Strommixes. Sie dürfte auch auf absehbare Zeit für die Stromerzeugung in Deutschland aufgrund der hohen Kosten und der Risiken der Tiefbohrungen keine relevante Rolle spielen. Im Wärmesektor ist die Situation eine andere, weshalb zum Beispiel Badenova gerade Potenzialgebiete am Oberrhein identifiziert hat und nun weitere Analysen auf den Gemarkungen Breisach, Merdingen, Freiburg, Schallstadt, Ehrenkirchen, Bad Krozingen und Hartheim vornehmen will.
Für die Stromerzeugung jedoch bergen in Deutschland allein Sonne und Wind realistische Potenziale in großem Stil. Allerdings sind die kursierenden Zahlen aus Sicht des komplexen Stromsystems nur bedingt relevante Zahlenspiele. Denn Strom muss rund um die Uhr bereitstehen, nicht nur bei Wind und Sonnenschein. Fallen beide gleichzeitig aus – man spricht dann von Dunkelflauten –, braucht man ausreichend Ersatzkapazitäten.
„Ohne eine Elektrifizierung von Verkehr und Industrie können wir die Klimaziele schwer erreichen“
Prof. Niklas Hartmann, HS Offenburg
Ein Beispiel: Am frühen Abend des 28. September brachten Wind und Sonne zusammen in Deutschland zeitweise nur eine Leistung von 2,4 GW. Der Großteil des Strombedarfs von 64 GW musste zu diesen Stunden aus anderen Quellen gedeckt werden – überwiegend atomar oder fossil erzeugt, zum Teil importiert. Selbst ein zehnfach höherer Bestand an Wind- und Solaranlagen hätte an jenem Abend die konventionellen Kraftwerke nicht überflüssig gemacht.
Aber selbst die Gaskraftwerke, die nach dem Kohleausstieg als Reserven fungieren sollen, werden allein für ein stabiles Netz nicht reichen. „Wir werden zudem noch 40 bis 60 GW an Batteriespeichern benötigen“, sagt Professor Hartmann. Diese müssten dann ihre Leistung für fünf bis zehn Stunden halten können. Die 285.000 Photovoltaik-Stromspeicher, die Ende 2020 in Deutschland installiert waren, erreichen bisher weniger als ein Prozent dieser angestrebten Menge.
Ab 2040 käme dann als weitere Speicheroption auch der Wasserstoff hinzu, der unter Einsatz von überschüssigem Strom erzeugt wird. Das Gas kann dann in die bestehende Gasinfrastruktur eingespeichert und später zur Stromerzeugung genutzt werden – unter anderem in umgerüsteten Erdgaskraftwerken.
Sinnvoll ist das gleich doppelt: Zum einen wird es in Zukunft immer mehr Stunden im Jahr geben, in denen Sonne und/oder Wind so viel Strom liefern, dass dieser nicht mehr direkt sinnvoll verbraucht werden kann. Also braucht man „Stromsenken“, also Abnehmer, die den Strom verwerten können. Zum anderen will man ja auch in den Gaskraftwerken irgendwann weg von dem fossilen Energieträger. Wasserstoff könnte nun beides verbinden.
„Wir gehen von einem Bedarf an Wasserstoffspeichern von fünf bis zehn GW ab dem Jahr 2040 aus.“
Prof. Niklas Hartmann
Im Unterschied zu Batterien, die mit ihrem Strom nur einige Stunden überbrücken können, könnte Wasserstoff auch für eine ganze Woche die notwendige Leistung aufrechterhalten.
Solche Stromspeicher, die unter dem Begriff „Power-to-gas“ laufen, gibt es bislang nur als geförderte Pilotprojekte. Das liegt daran, dass die Technik betriebswirtschaftlich noch nicht rentabel ist. Eines der Forschungsprojekte steht seit 2018 auf dem Gelände des Wasserkraftwerks in Wyhlen, betrieben vom Energieversorger Energiedienst und dem Zentrum für Sonnenenergie- und Wasserstoff-Forschung Baden-Württemberg (ZSW). Durch eine im Dezember 2020 erfolgte Zusage des Bundeswirtschaftsministeriums wird die Anlage in Wyhlen inzwischen unter dem Stichwort „Reallabor“ für fünf Jahre gefördert.
Energiedienst schreibt zu dem Projekt: „Durch eine intelligente Verknüpfung diverser Bereiche – Mobilität, Industrie, Wärme – soll der grüne Wasserstoff mit hohen Wirkungsgraden zur Anwendung kommen.“ Das Unternehmen wirft damit ein Schlaglicht auf eine besondere Schwierigkeit, die der Umbau des gesamte Stromsystems mit sich bringt: Es werden in den kommenden Jahren und Jahrzehnten in großem Stil neue Stromverbraucher hinzukommen. Längst zerbrechen sich Politik, Wirtschaft und Wissenschaft die Köpfe, welche Verbräuche künftig zu erwarten sind.
Im Sommer räumte auch Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier ein, dass der Stromverbrauch in Deutschland in den kommenden Jahren aufgrund der politischen Vorgaben deutlich steigen wird. Bislang war die Bundesregierung für das Jahr 2030 von einem Bruttostromverbrauch von 580 TWh ausgegangen. Inzwischen rechnet das Ministerium mit 645 bis 665 TWh, weil die Elektromobilität und der vermehrte Einsatz von strombasierten Heizsystemen den Verbrauch steigen lassen.
Manche Beobachter halten die Zahlen aus dem Ministerium noch immer für deutlich zu niedrig. Der Bundesverband Erneuerbare Energie errechnete jüngst einen Verbrauch von sogar 745 TWh im Jahr 2030, ausgehend von 13 Millionen Elektroautos und 7 Millionen elektrischen Wärmepumpen in den Häusern.
In den Folgejahren dürfte womöglich sogar noch deutlich mehr Strom nötig sein. „In unseren Szenarien gehen wir von einer jährlichen Elektrizitätsnachfrage von 700 bis 1400 TWh aus, wenn wir die gesetzten Klimaziele bis 2050 erreichen wollen“, sagt Professor Hartmann. Das liegt an jenem Konzept, das in der Fachsprache Sektorkopplung heißt: Verkehr, Industrie, Wärmemarkt – alles wird elektrisch versorgt, also an den Strommarkt gekoppelt. „Ohne eine Elektrifizierung von Verkehr und Industrie können wir die Klimaziele schwer erreichen“, sagt Hartmann.
Bei allen Szenarien ist zudem eines wichtig, und das berücksichtigt auch die Offenburger Hochschule: Es werde stets davon ausgegangen, dass Deutschland in Zukunft in der Jahressumme mindestens so viel Strom erzeugt, wie es verbraucht, sagt Hartmann. Dies wird schon alleine aus Gründen der politischen Akzeptanz für die Energiewende wohl auch nötig sein – denn die Vorstellung, Deutschland steigt aus Atomkraft und Kohle aus und importiert dann Strom in großem Stil, womöglich gar Atomstrom aus Frankreich, wäre hierzulande schwer vermittelbar.