Henrik Epe ist Weiterbildungsleiter und betreut Unternehmen und soziale Organisationen als „Pfadfinder einer neuen Arbeitswelt“. Wie wir uns in Zukunft darauf einstellen müssen, dass dies nicht die letzte Krise gewesen sein wird.
VON HENRIRK EPE
Das Jahr 2020 hat gezeigt, dass sowohl Neu-Lernen als auch Ver-Lernen notwendig sind, um unsere Zukunft in der Krise lebenswert zu gestalten. Das gelingt durch die Übernahme echter Verantwortung, dem Erlernen einer „Unsicherheitsbewältigungskompetenz“ und der Beantwortung der Frage, was Sie wirklich, wirklich tun wollen. Denn: Das war nicht die letzte Krise.
Die Krise als Chance nutzen? Den Satz kennen Sie sicher. Ehrlich gesagt klingt er für mich zynisch: Zum einen reden wir bei der Corona-Pandemie über eine durch einen Virus ausgelöste heimtückische Krankheit, die viele Leben gekostet hat und noch kosten wird. Zum anderen stehen durch die wirtschaftlichen Konsequenzen, die in ihrer Gänze noch längst nicht absehbar sind, Unternehmen, kleine Geschäfte, Gastronomie- und Kulturbetriebe und damit Menschen vor dem Ende ihrer Existenz.
Die gesamtwirtschaftlichen Kosten sind nicht absehbar. Während die Lufthansa mit Steuergeldern in Milliardenhöhe gerettet wird, wird der Rotstift schon jetzt, bevor das engagierte Klatschen verhallt ist, bei – angeblich systemrelevanten – sozialen Organisationen auf kommunaler Ebene angesetzt. Die Kosten werden unsere Kinder zahlen müssen. Hier über-schneidet sich die Corona-Pandemie mit der zweiten, deutlich umfassenderen, globalen Krise unserer Zeit, der Klimakatastrophe. Die in den skizzierten Entwicklungen liegenden Chancen muss man da schon gezielt herbeireden.
Trotz oder gerade aufgrund der schier aussichtslosen Situation schaffen es viele Menschen, Gruppen und Unternehmen, die Ärmel hochzukrempeln und neu zu starten, anders zu agieren, eben: umzudenken. Dabei ist auffällig, dass in neuen Situationen oftmals andere Menschen sichtbar werden, Menschen, die in der „alten Normalität“ leise waren, so leise, dass deren Ideen nicht gehört wurden. Vielleicht waren sie auch deshalb so leise, weil sie sich dem Altherrengetöse in Wirtschaft und Politik nicht aussetzen wollten. Status verteilt sich in der Krise auf einmal danach, wer Ahnung hat und nicht mehr danach, wer hierarchisch „vorgesetzt“ ist. Autorität basiert nicht mehr auf formaler Macht, sondern auf Kompetenz.
Achten Sie mal im Kleinen darauf: Im „neuen normal“ (gut moderierter) Videokonferenzen kommen nun alle und damit auch die ruhigen, bedächtigen, introvertierten Menschen mit ihren Ideen zu Wort. Diese Ideen können der Schlüssel zu wirklicher Innovation sein. Und Innovation, so schreibt Wolf Lotter in seinem Buch „Streitschrift für barrierefreies Denken“ sehr passend, ist die Hoffnung, dass es besser wird.
Echte Innovationen zeigen sich als die Lösung echter Probleme.
Vor 2020 haben wir versucht, Innovation und damit die Hoffnung, dass es besser wird, mit teuren Design-Thinking-Beratern einzukaufen, die Probleme für bereits existierende Lösungen gesucht haben. Eigentlich ging es dabei nicht um Innovation. Es ging, sind wir ehrlich, um Wachstum, um Mithalten im globalen Wettbewerb, um mehr, höher, schneller, weiter … Es ging um das Aufpolieren des eigenen Egos über den Verkauf von Produkten, die in einer Krise niemand wirklich braucht.
Denn echte Innovationen zeigen sich nicht mit einem beheiz-baren Lenkrad. Echte Innovationen zeigen sich als die Lösung echter Probleme. Diese echten Probleme haben wir jetzt, seit der Corona-Pandemie. Nein, anders: Echte Probleme hatten wir auch schon vorher, hinter der Bühne. Wir konnten nur besser die Augen vor ihnen verschließen. Die Corona-Pandemie stellt die Probleme aber radikal und ungeschminkt ins Rampenlicht. Dabei ist es egal, ob es sich um die großen globalen Themen wie Klimakatastrophe, Globalisierung, Ausbeutung des globalen Südens oder die komplett verschlafene digitale Transformation handelt oder um die in vielen Teams und Unternehmen vorhandenen, „kleinen“ Probleme:
Ungleichbehandlung, fehlende Diversität, eine auf Kontrolle und Misstrauen basierende Kultur, fehlende Visionen, kaum zu findende Selbstorganisation und nur schwach ausgeprägte Verantwortungsübernahme und vieles mehr führen dazu, dass Firmen die zunehmende Komplexität nicht mehr gestalten können.
“Status verteilt sich in der Krise auf einmal danach, wer Ahnung hat und nicht mehr danach, wer hierarchisch ‚vorgesetzt‘ ist“
Hendrik Epe, Weiterbildungsleiter
Beides übrigens, die gesellschaftliche wie die Organisations-perspektive, umgreift dieses „New Work“, von dem gerade so viel gesprochen wird: New Work hat im ursprünglichen Sinn nichts mit der Frage zu tun, wie angenehmere Arbeitsplätze gestaltet werden. New Work hat in diesem Sinn nichts mit Kickertischen, Smoothiebar und Gratis-Yoga-Stunden für alle zu tun. New Work in seinem ursprünglichen Sinne stellt die Frage danach, was jeder von uns, wie Frithjof Bergmann, der Begründer des Konzepts New Work, es eindrücklich formulierte, „wirklich, wirklich tun will“. Die ernsthafte Beantwortung dieser Frage wird nicht lauten: „Ich will wirklich, wirklich den Planeten zerstören, in dem ich mir meinen zweiten SUV, eine Kreuzfahrt und einen neuen Pelzmantel kaufe.“
Die ernsthafte Beantwortung dieser Frage ist eine hochgradig individuelle, unternehmerische Frage: „Wie kann es mir gelingen, echte Verantwortung für mein Leben und das Leben meiner Mitmenschen zu übernehmen?“ Im Kontext von New Work ergibt sich hieraus sofort die Frage danach, wie wir Teams, Unternehmen und Arbeit insgesamt gestalten und welchen Wert wir –ganz grundlegend – der „Freiheit der/des Einzelnen“ einräumen müssen, wollen, können und dürfen. Dabei ist in der heutigen Zeit wichtig zu betonen, dass Freiheit weit über die individuelle Freiheit hinausgeht und immer Verantwortung gegenüber meinen Mitmenschen und der Umwelt voraussetzt.
“Wie etwas zu sein hat“ zählt nicht mehr.
Ich höre in meiner Arbeit immer wieder, dass Menschen ja keine Verantwortung übernehmen wollen. Das zeige sich ja gerade in der Krise und im Ruf nach einer Sicherheit gebenden Führung. Ich sehe das nicht so: Alle Menschen können und wollen Verantwortung übernehmen, sich selbst organisieren und gemein-sam den Karren aus dem Dreck ziehen. Sie haben es nur nicht (oder zumindest kaum) gelernt – nicht in der Schule, nicht in Hochschulen und am Arbeitsplatz schon dreimal nicht.
Entsprechend brauchen wir dringend Strukturen und Rahmenbedingungen in unseren Unternehmen, die es ermöglichen, die Übernahme von Verantwortung wirklich zu lernen. Lernen ist ein Prozess aus Versuch und Irrtum, step by step, auf der Grundlage von Wissen und Erfahrung. Das braucht Zeit und hat in unseren Unternehmen viel mit „Ver-Lernen“ alter Paradigmen zu tun: „Wie etwas zu sein hat zählt heute nicht mehr und ob etwas „schon immer so gemacht wurde“ wird als Argument immer schwächer.
Lernen und Ver-Lernen funktioniert vor allem dann, wenn Menschen emotional berwährt sind. Das ist jetzt, in der Krise, auf vielen Ebenen der Fall. Damit steht die Tür offen für wirkliches Lernen und Veränderung und damit echte Innovation im Sinne der Hoffnung, dass es besser wird.
Dieses Lernen der Übernahme von Verantwortung, die Ermöglichung von Innovation, das Erlernen von Unsicherheitsbewältigungskompetenz steht dringend an – für jeden einzelnen von uns, für jedes Unternehmen und für die Gesellschaft als Ganzes. Noch einmal: Nicht mehr nur die „Öko-Pioniere“ sind gefragt, sondern alle Unternehmen, klein wie groß. Denn das war nicht die letzte Krise, der wir uns stellen müssen. Aber mal ehrlich: Genau das ist doch dieses „unternehmerische Handeln“, das wir uns so wünschen: Anders an Probleme heran-gehen, die Menschen positiv darin unterstützen, das zu finden und entfalten zu können, was sie wirklich, wirklich tun wollen und so eine lebenswerte Zukunft gestalten.
Wir können immer um-denken!
Der 40 Jahre alte Hendrik Epe aus Endingen ist Weiterbildungsleiter am Institut für Angewandte Forschung, Entwicklung und Weiterbildung der Katholischen Hochschule Freiburg. Bei seiner Arbeit mit Unternehmen und sozialen Organisationen stehen insbesondere die Gestaltung selbstorganisierter Strukturen, die Steigerung der Innovationsfähig-keit und ein zeitgemäßer Umgang mit der digitalen Transformation im Fokus. Mehr Infos unter www.ideequadrat.org.