Ethnologen, Philosophen oder Germanisten müssen sich für ihr Studienfach auf dem Arbeitsmarkt oft rechtfertigen. Dennoch werden sie in vielen Branchen gebraucht – als Allrounder, Denker und Kommunikatoren. Einige Beispiele aus der Region.
VON CHRISTINE WEIS
Wirtschaft und Geisteswissenschaft werden nur selten in einem Atemzug genannt. Wenn dann eher in Zusammenhang von mangelnden Drittmitteln oder fehlendender ökonomischer Relevanz. Das spürt dann auch so mancher gebildete Akademiker, wenn er den Kosmos Uni verlässt, und sich auf dem Arbeitsmarkt umsieht. Unzweifelhaft sind die Geistes- und Kulturwissenschaften ein hohes Gut, im Wettbewerb mit anderen Wissenschaften geraten sie allerdings ins Hintertreffen, weil ihr Wissen nicht offenkundig direkt „verwertbar“ ist – im Gegensatz zu den technischen, naturwissenschaftlichen, juristischen, wirtschaftlichen oder medizinischen Disziplinen.
Wir leben aber nicht nur im Land der Virologen und Informatiker, sondern auch in jenem der Dichter und Denker. Ihre Stimmen hört man im öffentlichen Diskurs allerdings nur leise und wenn, dann in kulturellen Spätsendungen oder in den Feuilletons. Im aktuellen achtköpfigen beratenden Expertengremium der Bundesregierung ist mit der Psychologin Cornelia Betsch nur eine aus der geisteswissenschaftlichen Zunft vertreten. Die Uni Freiburg rühmt sich jedenfalls auch mit ihren geisteswissenschaftlichen Fakultäten und Namen wie Edmund Husserl oder dem – wenn auch umstrittenen – Martin Heidegger.
Welche Karrierechancen haben Geisteswissenschaftler in der Region?
„Wenn es der Wirtschaft gut geht, machen Arbeitgeber den Trichter für Absolventen der Geisteswissenschaften weiter auf“, sagt Christof Hilligardt, Berufsberater des Hochschulteams der Agentur für Arbeit in Freiburg. Er berät Absolventen aus den geistes- und sozialwissenschaftlichen Fachbereichen. Dazu zählen Archäologie, Ethnologie, Gender Studies, Geographie, Geschichte, Musikwissenschaft, Literatur, Politik, Sprachen, Soziologie, Philosophie, Psychologie, Sinologie oder Theologie. In den entsprechenden drei Fakultäten (Philologie, Philosophie, Theologie) sind aktuell fast 6000 Studierende eingeschrieben, das entspricht rund 24 Prozent der gesamten Studentenschaft an der Freiburger Uni. Der 36-Jährige weiß, wovon er spricht, er hat selbst einen Magister in Französischer Kulturwissenschaft.
„Wer keine wissenschaftliche Karriere an der Hochschule oder an einer anderen Forschungseinrichtung einschlägt, sollte sich schon während des Studiums umsehen, Praktika absolvieren, Erfahrungen sammeln, Kontakte knüpfen und sich digitale Kenntnisse aneignen.“
Christoph Hilligardt
Erfahrungsgemäß beginnt die Berufskarriere von Geisteswissenschaftlern holpriger als etwa in technischen und naturwissenschaftlichen Bereichen, wo die Verzahnung mit der freien Wirtschaft schon im Studium oder im Rahmen der Promotion stattfinde. Geisteswissenschaftler brauchen in der Regel länger, bis sie in einer dem Studium adäquaten Position sind. Praktika, Volontariate, befristete Verträge sind die steinigen Wegmarken dorthin.
Stellen mit inhaltlicher Verknüpfung zum Studienfach wie in Kultureinrichtungen, Museen, Medienhäusern oder Verlagen sind rar. Laut einer Studie vom Institut für Deutsche Wirtschaft von 2019 arbeiten 42,7 Prozent der Geisteswissenschaftler in für ihre Fachrichtung eher untypischen Berufen. Von den rund neun Millionen erwerbstätigen Akademikern stellen die Geisteswissenschaftler ohne Berücksichtigung der Lehramtsabsolventen einen Anteil von 5,6 Prozent. Ihr bundesweiter Anteil an den Studierenden liegt bei rund acht Prozent. Ein Blick in die Statistik der Agentur für Arbeit zeigt, dass die Arbeitslosenquote von Geisteswissenschaftlern sich bundesweit auf niedrigem Niveau bewegt, eben weil sie offen für studienferne Tätigkeiten sind.
Geisteswissenschafltiches Studium qualifiziert die Absolventen für viele Berufe
„Quereinsteiger müssen sich allerdings häufig für ihr Studienfach rechtfertigen“, sagt Hilligardt, „dennoch gerade in den Bereichen Marketing, Vertrieb, Kommunikation, Personal- oder Projektmanagement sind ihre Qualifikationen auf dem Arbeitsmarkt gefragt. Viele finden auch Jobs bei Verbänden, Gewerkschaften, Kammern, im öffentlichen Dienst oder Bildungsträgern – der Radius ist weit, wenn man flexibel ist“. Hilligardt nennt einige aktuelle Beispiele von Quereinsteigern aus seinem Beratungspool. So arbeitet eine Ethnologin bei einer Forschungs- und Beratungseinrichtungen für Nachhaltigkeit, eine Politikwissenschaftlerin ergattert eine unbefristete Stelle in der Kommunalverwaltung und ein Opernsänger von der Musikhochschule steigt bei einem Anbieter für Diensträder ein.
Industrie und Kultur schließen sich nicht aus: Quereinsteiger bei Testo
Messtechnik-Hersteller Testo richtet sich mit dem VIA-Programm speziell auch an Quereinsteiger aus den Bereichen Geistes- und Sozialwissenschaften. Der Weltmarktführer aus dem Schwarzwald mit einem Jahresumsatz von rund 340 Millionen beschäftigt an den Standorten Titisee-Neustadt, Lenzkirch und Kirchzarten etwa 1.320 Mitarbeiter, mit den internationalen Standorten sind es rund 3.200. Die Größe des Unternehmens erlaubt es, die eigene Ausrichtung nicht allein auf technologische Produktion und Forschung zu fokussieren.
„Unsere Unternehmensbereiche sind enorm vielfältig, dabei spielen Themen wie Regionalität, Nachhaltigkeit, Marktforschung, soziale und kreative Faktoren zunehmend eine wichtigere Rolle.
Ausbildungsleiter TEsto Björn Brendemühl
Gerade hier sieht er die Stärke der Geisteswissenschaftler. Das hat sich wohl rumgesprochen, denn die Zahl an Initiativbewerbern steigt kontinuierlich. Die Absolventen haben weniger Hemmungen und lenken ihren Fuß vermehrt in Richtung Industrie, so die Wahrnehmung bei Testo. Neben den Bereichen Kommunikation, Vertrieb, Marketing, Human Resources ist ein fachfremder Blick etwa von Pädagogen im Produktmanagement gewünscht. „Der Mensch steht bei uns Vordergrund und eine durchmischte Belegschaft bereichert alle“, sagt Ausbildungsleiterin Nicole Senn. In der Tat, die Disziplinen bei den Quereinsteigern reichen von Germanistik über Medienpädagogik, Psychologie bis zu Internationaler BWL.
Von der Uni in die Selbstständigkeit: Florian Kullack und und Nina Ruh mit ihrer Schafstour
Florian Kullack hat Ethnologie in Freiburg studiert. Das wissenschaftliche Arbeiten und Denken nützen ihm beruflich in seiner Selbstständigkeit. Der 44-Jährige erinnert sich aber noch gut daran, dass er von seinen Dozenten an der Uni enttäuscht wurde, als es um die Frage nach der beruflichen Verwertbarkeit der Studieninhalte ging: „Wir sind für die Lehre zuständig, was danach passiert gehört nicht in unseren Aufgabenbereich“, war ihre Antwort.
Heute stehen in den Geisteswissenschaften oft einem Plus an berufsbezogenen Seminaren ein Minus an Zeit und Flexibilität im Studium zur Entwicklung eigener Ideen Geschäftsideen gegenüber.
Florian Kullack, Ethnologe
Er machte sich vor acht Jahren selbst daran, das Gelernte über fremde Länder und Kulturen praktisch mit einigen Tourismusprojekten in Indien und auf Korfu umzusetzen. 2016 gründete er dann zusammen mit seiner Frau Nina Ruh (Psychologin) das Start-up „Schafstour“ als Uni-Ausgründung. Seitdem vermitteln die beiden mit einem kleinen Team regionale Kultur in Freiburg und Konstanz. „Schafstour“ bietet Schnitzeljagden für Erwachsene, Firmen und Familien an. Es geht dabei nicht um konsumierendes Sightseeing. Das Konzept sieht vor, dass die Teilnehmer auf ausgesuchten Routen sich Historie, Kunst oder Natur auf eigene Faust erschließen. Ein bisschen wie an der Uni.