Gibt es ein Unternehmen in der Region, das die Herausforderungen an Innovation und Transformation in einem Haus bündelt, in dem die Zukunft gelebt wird? Wenn ja, dann die Haufe Group – 1950 Mitarbeiter, 20 Standorte, über sieben Länder weltweit verteilt. Grund genug für einen ungewöhnlichen Besuch in der Freiburger Zentrale. Für ein Gespräch über die wichtigsten Veränderungen der Arbeitswelt. Vor allem, was sie für Mittelständler wie Großkonzerne bedeuten.
Von Rudi Raschke
Ein Unternehmen kennen lernen – das geht vom Chef-Interview übers Vorstellungsgespräch bis zur Betriebsbesichtigung, wenn auch per Mini-Einblick. Beim Mitarbeiterfest oder Firmentag? Auch eine Idee, wenngleich sich die wenigsten hierfür öffnen. Die Haufe Group macht auch hier vieles anders – „we are open-minded“ lautet das Thema für ein selten gesehenes Großevent. Wo andere mit Hüpfburg, Würschtl und kantinen-ähnlicher Zusammenkunft im Budgetrahmen zu bleiben versuchen, öffnet sich Haufe großräumig: Für alle Mitarbeiter samt Familien, Freunden und allen, denen sie ihren Arbeitsplatz und Arbeitgeber zeigen wollen.
Besonders daran ist nicht die schiere Größe einer Sause für rund 2.500 Menschen. Es ist eher die gedankliche Flughöhe, auf der die Haufe Group das Ganze anlegt. Dass sie die Türen öffnet, ist das eine. Dass sie entlang der acht Etagen im Neubau auch eine thematische Gliederung des Tages vornimmt, das andere. Der fünfte Stock steht an diesem Nachmittag Mitte September beispielsweise unter der Headline „Wir sind offen für die Welt von morgen“. Birte Hackenjos und Markus Reithwiesner sind als COO und CEO die beiden Holding-Geschäftsführer der Haufe Group. Beide – auch das ist beachtlich an einem Family- und Friends-Tag – halten je zwei Keynotes, also Grundsatzansprachen zum Unternehmen.
Zwischen Workshops und Aktion finden ziemlich viele Familienangehörige eine halbe Stunde Zeit, um auf Stühlen und Sitzsäcken den Chefs zuzuhören, die ihre Ideen und das Haus vorstellen. Reithwiesners Vortrag wirkt aus einem Guss gestaltet, er erklärt, was Disruption ist, sagt zur Transformation, „dass wir gerade erst anfangen“ und verknüpft fluffig Zitate des Philosophen Henry David Thoreau mit kleinen Denksportaufgaben und einem neuen Werbevideo. In dem das Unternehmen seine Vielfalt demonstriert und die Wortschöpfung „Richtigtuer“ erfindet.
Das ist der Rahmen, in dem zwischen den Keynotes die Zeit für ein knapp einstündiges Interview eingefügt ist. Dazwischen haben sie noch beim Schaukochen mit ihrem Gast Harald Wohlfahrt, Deutschlands ewigem drei-Sterne-Gastronom, in der Kantine geplaudert. Uber Abläufe, Hierarchien und Fehler in der Küche, in Wohlfahrts Fall ein Roastbeef-Brikett. Es folgt ein Gespräch, in dem Hackenjos und Reithwiesner fast gar nichts über ihre Produkte, sondern viel mehr über das Selbstverständnis eines Unternehmens im Wandel erzählen.
A propos Unternehmen: bei der Haufe Group sprechen sie seit Jahren konsequent von der „Organisation“ – es klingt nach einem Mix aus Organismus und Institution. Und es fühlt sich damit Lichtjahre von dem entfernt an, was unsere Eltern ganz monolithisch als „Die Firma“ kannten. Aber wer schaut da noch durch?
VERTRAUEN // KONTROLLE // DIVERSITY
Angesichts der vielen Projekte und Angebote Ihres Hauses: Wie behalten Sie selbst noch den Überblick? Also darüber, was in Zukunft spannend wird, was sie in welcher Gewichtung vorantreiben möchten?
Markus Reithwiesner: Gar nicht. Und ich glaube, das ist das Geheimnis an unserem Transformationserfolg. Wir beschäftigen uns momentan sehr viel damit, was es bedeutet, ein Unternehmen von 400 bis 500 Millionen Umsatz in Richtung einer Milliarde Euro zu führen. Für solch eine Transition bedarf es ganz anderer Herangehensweisen als etwa bei einem traditionellen Mittelständler, der sich tief in alle Unternehmensabläufe einarbeiten kann und ein hohes Verständnis von allem hat, was im Unternehmen passiert. Wir glauben, dass gerade dieser kontrollhafte Überblick zu einem limitierenden Faktor werden kann.
Was ist Ihr Gegenentwurf dazu?
Reithwiesner: Dieser Tag heute ist ein sehr gutes Beispiel dafür, wie wir das Unternehmen erfolgreich in die Zukunft führen wollen: Wir haben vorab einen Rahmen geschaffen, indem wir ausführlich über den Purpose, also das Bewusstsein über den Zweck und das ‚Warum‘, gesprochen haben. Darüber hinaus haben wir keinerlei Vorgaben gemacht, was genau passieren soll. So war jeder Fachabteilung freigestellt, sich und ihre Arbeit im Unternehmen vorzustellen. Wir wussten also selbst nicht, welche Ideen umgesetzt werden. Durch dieses Loslassen schaffen wir Räume, die die Menschen dann selbst füllen. Nur so können wir unsere Ziele angesichts der enormen Agilität, Komplexität und Veränderungsgeschwindigkeit unserer Zeit erreichen. Es gibt hier selbst für uns Ideen, auf die wir nie gekommen wären, aber sie sind cool.
Also geht es darum, wie man selbst in das eigene Unternehmen blickt und sich im entscheidenden Moment einbringt?
Birte Hackenjos: Ich kann das nur unterstreichen: Der totale Überblick über alle Unternehmensabläufe wird durch Vertrauen, die Mitarbeiter und Diversity ersetzt. Deshalb steht der Tag auch unter dem Motto ‚open-minded‘, denn es ist diese Haltung, die uns in der Haufe Group prägt. Dadurch entwickeln wir ein Gespür, wann etwas entsteht, bei dem wir uns an den Tisch dazusetzen müssen. Dazu gehört auch, dass die Mitarbeiter zu uns kommen können. Es gibt hier keine Hürden über drei Vorzimmer. Stattdessen ist uns die eigene Offenheit, aber auch die Unterschiedlichkeit der Mitarbeiter extrem wichtig. Denn jede Aufgabe erfordert andere Fähigkeiten und Eigenschaften. Aus dieser Diversity entsteht unglaublich viel Energie. Weil die Menschen, die in unserem Unternehmen arbeiten, über genau die richtigen Charaktere und das richtige Knowledge verfügen, die wir brauchen, um erfolgreich zu sein. Überblick verstehen wir nicht als Steuerung und Kontrolle – das ersetzen wir durch Vertrauen.
Reithwiesner: Dabei kommt es eben auch auf den Umgang mit Problemen und Fehlern an. Wir wollen immer eine Lernreise anbieten, auf der jeder Mitarbeiter unterwegs ist. Bei hierarchischen Organisationen hingegen werden Veränderung und Offenheit oft gehemmt. Das zeigt etwa das aktuelle Beispiel Volkswagen: Die Probleme dort sind nicht durch schlechte Mitarbeiter entstanden, sondern durch eine repressive Unternehmenskultur. Das Management hat sich den Problemen verschlossen. So konnten die Mitarbeiter nicht offen mit den Missständen umgehen, sondern wählten in ihrer Verzweiflung eben grenzwertige Wege.
Hackenjos: Sie sehen das auch in der Form, wie wir vor Ihnen sitzen. Vor einem Jahr waren wir mit Herrn Laqua noch zu drittin der Geschäftsführung. Als dieser dann in den Beirat wechselte, haben wir uns intensiv mit der Frage beschäftigt, wie wir die Holding-Geschäftsführung zukünftig aufstellen sollten. Wie viele Menschen brauchen wir an der Spitze, wenn das Unternehmen so weiterwachsen soll? Sollten es wieder drei Geschäftsführer sein oder gar mehr? Denn bräuchte mehr Wachstum nicht auch mehr Vorstände? Wir haben sehr intensiv diskutiert, wo wir in fünf Jahren sein wollen und uns dann bewusst entschieden: Nein, wir brauchen nicht mehr Leute im Topmanagement, das würde nur in Richtung Kontrolle gehen, wir brauchen eine schlanke Führung und bewusste Delegation. Daher haben wir stattdessen zeitgleich eine Netzwerkorganisation ins Leben gerufen, bei der wir die Verantwortung auf mehrere Köpfe verteilen. Und das hat sich sehr bewährt. Indem wir allen 1950 Mitarbeitern das Vertrauen für ihre Aufgaben schenken.
Okay, es sind tatsächlich rund 2000 Mitarbeiter, die einen Umsatz von knapp 400 Millionen Euro erwirtschaften. Vor drei Jahren waren das 1300 bei 250 Millionen Euro. In einem Porträt des Magazins „brand eins“ wurden als Ziel für das Jahr 2020 die Zahl von 2500 Mitarbeitern und 500 Millionen Euro ausgegeben. Man reibt sich ein wenig die Augen – das Unternehmen, das so gar nicht Kontroll-getrieben auftritt, befindet sich genau in der Mitte einer kerzengerade Strecke dorthin. Wie wird es also geführt?
HIERARCHIEN // FÜHRUNGVon wem lernen Sie selbst bei solchen Entscheidungen?
Reithwiesner: So viele Leuchttürme gibt es da nicht – stattdessen kommen immer mehr Topkunden auf uns zu und fragen, ob wir für sie mit neuen Organisationsformen und Ansätzen experimentieren können. Denn wir haben den Vorteil, dass fast ausschließlich Wissensarbeiter bei uns arbeiten, mit denen wir neue Ansätze ganz anders umsetzen können als das beispielsweise in der Industrie der Fall ist. Ganz klar ist, dass wir uns mit Blick auf das Lernen zwar an der Spitze bewegen. Aber auch wir wissen nur, dass wir mit den Strukturen und Leitlinien der Vergangenheit, also mit Top-down-Entscheidungen etwa, nicht mehr nachhaltig erfolgreich sein können.
Hackenjos: Deshalb können wir nur noch schwer mit Finalitäten arbeiten. Wir sagen nicht ‚Wir haben das jetzt umgestellt‘. Denn wir befinden uns eben in einem permanenten Prozess der Veränderung. Es gibt nichts, was wir bis Jahresende erledigen wollen, um uns dann für zwei Jahre darauf auszuruhen. Alles wird immer in Bewegung bleiben. Und um das zu vermitteln, stellen wir unseren Mitarbeitern Coachings zur Verfügung, die sie zur Veränderung befähigen sollen. Denn für solch eine Haltung des permanenten Wandels müssen auch Ängste überwunden werden. Das ist nicht immer einfach. Daher sind wir der Auffassung, dass bei uns niemand nur für das Unternehmen lernen soll, sondern auch für sich ganz persönlich.
Reithwiesner: Es passiert hier etwas ganz Erstaunliches: Bei uns hat sich ein Klima des gegenseitigen Lernens und Beeinflussens entwickelt. Einzelne Teams im Haus merken etwa, wie andere Teams etwas Erfolgreiches gestaltet haben. Und diese Erfolgsmethoden verbreiten sich viral in der Organisation. Auf einmal tauchen Begriffe und Verfahren auf, die nie vorgegeben wurden, sondern aus der Vernetzung übernommen werden. Mit Werkzeugen zum Beispiel, die irgendwann von immer mehr Menschen gefordert werden. Denn die Adaption des Besten führt zum schnelleren Erreichen des Ziels. Das verändert auch unsere Rolle.
Hackenjos: Dazu gehört auch, dass Mitarbeiter offen zu uns sagen, wenn wir eine Meinung oder Entscheidung überdenken sollten.
Verfällt man bei der Führung noch in alte Verhaltensweisen? Dass sie vor ein paar Jahren noch andere Antworten auf solche Hinweise gegeben hätten als heute?
Reithwiesner: Ganz ehrlich? Das müsste auch gar nicht falsch sein. Es gibt heute völlig unterschiedliche Herausforderungen, denen man situativ, organisatorisch und führungstechnisch begegnen muss. Ich denke immer an das Pilotenbeispiel in der Ausbildung: Es wird viel darüber gesprochen, was sich im Cockpit alles verändert hat. Aber es gibt eben auch herausfordernde Situationen, in denen der Kapitän ganz ohne Diskussion das Steuer übernimmt. Wir müssen heutzutage verschiedene Antworten auf unterschiedliche Fragen finden – mit den Performern unter den Mitarbeitern, aber auch mit Quer- und Andersdenkern, deren Ansätze wir in einen Kontext setzen müssen, der bei uns ‚extreme diversity’ heißt. Diese Fähigkeit vermitteln wir den Mitarbeitern in unseren Coachings.
Was an dieser Stelle nebenbei einfällt: Haufe ist immer ein Unternehmen mit Familien-Gesellschaftern geblieben. Es steht trotz eines gewaltigen Wachstums unabhängig von Investoren da.
FAMILIEN-STRUKTUR // INTERNATIONALITÄTInwiefern müssen Sie bei allen diesen Aktivitäten der Veränderung Ihre Gesellschafter mitnehmen?
Reithwiesner: Extrem. Wir haben uns zwei Jahre mit dem Satz beschäftigt, dass wir das Unternehmen als Familienunternehmen für die nächsten Generationen erhalten wollen. Dieses Ziel mag zunächst sehr richtig und gut klingen. Aber es bedeutet eben auch, dass in den kommenden Jahren keine exzessiven Profite möglich sind. Uns war es wichtig, mit den Gesellschaftern zu erarbeiten, was diese Entscheidung für unser Unternehmen bedeutet und welche Konsequenzen sie nach sich zieht. Das gilt auch für die Frage, wie wir uns weiter als Familienunternehmen ohne Zugriff auf den Kapitalmarkt bewegen.
Das hat unverändert seine Richtigkeit?
Reithwiesner: Das ist alles richtig so. Und hat auch Vor- und Nachteile. Wenn wir uns die Kollegen anschauen, die von Beteiligungskapital getrieben sind, gibt es viele, die in vier Jahren als CEO enormen Gewinn aus der Organisation ‚herauspressen‘ müssen. Das mag für manche Unternehmen die richtige Strategie sein, aber nicht für uns. Tatsache ist, dass wir in diesem Geschäftsjahr mit unseren Wachstumsinitiativen, die wir vor ein paar Jahren gegründet haben, einen Umsatz im dreistelligen Millionenbereich machen werden. Diese Initiativen bringen zwar in kurzfristiger Betrachtung keinen immensen Gewinn hervor, das ist mit den Internet- Geschäftsmodellen, die auf hohe Skalierung setzen, auch kaum möglich. Aber wir sehen, dass uns diese Geschäfte in die Zukunft führen werden, weil sie die Kraft haben, überproportional zu wachsen. Das mag sich in den ersten Jahren vielleicht nur geringfügig niederschlagen, doch wenn sich die Gewinne irgendwann im Millionenbereich verdoppeln, dann wird das spannend.
Wie sehr sind sie auf internationale Expansion angewiesen, damit es skaliert?
Hackenjos: Wir sind nicht auf Internationalität angewiesen, aber sie ist für uns eine zusätzliche Chance. Ein Blick auf die Landkarte macht deutlich, wie global wir mittlerweile geworden sind. Dabei wollen wir nicht zwingend in jedem Land Europas vertreten sein, sondern wir fragen uns, wo unsere Kunden sind. Zum Beispiel in den USA, wo wir großes Potenzial für unser Großkunden-Geschäft sehen. Mit der Marke Lexware für kleine Unternehmen mag das nicht so auf der Hand liegen. Aber mit Blick auf Großunternehmen rund um das Thema Führung und Talent Management ist das internationale Parkett sehr interessant für uns. Daher schauen wir auch über die Landesgrenzen hinaus.
Reithwiesner: Unsere Frage ist tatsächlich, mit welchen Kunden wir zusammenarbeiten wollen und wo wir sie finden. Ein Sportartikelhersteller aus Portland hat gerade einen globalen Vertrag mit uns geschlossen. Denn sie haben genau jene Lösungsansätze für ihre Herausforderungen gesucht, die wir ihnen sehr erfolgreich bieten können. Das war ein perfekter Match. Eine ähnliche Geschichte: Viele deutsche Unternehmen sind in China stark engagiert, aber sie haben ein Qualifikationsproblem bei ihren Mitarbeitern vor Ort. Deswegen sind wir seit 2017 mit 80 Menschen in Peking vertreten und führen eine Akademie. Für uns ist immer zentral, wo es einen Bedarf gibt, den wir mit unseren Lösungen gut decken können. Unser Geschäft ist nicht investoren-, sondern wertgetrieben und dadurch haben wir mittlerweile sehr viele internationale Kunden.
Der nächste Schritt sieht so aus: Die Haufe Group geht aktuell mit drei internationalen Branchenführern aus der Sportartikel-, der Telekommunikations- und der Automobilwelt weltweit an Projekte, in denen man sich gegenseitig im Sinne einer „Co-Creation“ rüstet. Daran ist nicht nur der Gedanke der Kollaboration auf höchster Ebene packend. Es ist auch ein Schritt in eine neue Ära, die bei Haufe ein Projekt-Produkt namens „people.os“ hervorgebracht hat. Einsetzbar für Businessstrategie wie interner Organisation wird es als „Betriebssystem“ bezeichnet. Wie stößt ein südbadisches Unternehmen an der Seite ganz großer Partner in derlei Galaxien vor?
INNOVATION // TRANSFORMATION // ENTWICKLUNG
Wie nehmen Sie Themen rund um Innovation bei Ihren großen Industriekunden wahr, wie aufgeschlossen oder verschlossen sind die großen Unternehmen gegenüber Neuerungen?
Reithwiesner: Das ist eine Frage der Haltung, nicht des Produkts. Wie wollen Unternehmen ihre Organisation umbauen und wie gehen sie mit strategischen Herausforderungen um? Da rennt die Haufe Group offene Türen ein?
Hackenjos: Absolut. Die Türen sind offen, manchmal sind sie nur unterschiedlich groß oder unterschiedlich verglast. Und manchmal stoßen wir ein Umdenken vielleicht gerade erst an, wenn Kunden beginnen, mit unseren Ansätzen zu arbeiten. In solchen Fällen merkt man, dass ein Unternehmen vielleicht noch nicht ganz so veränderungsreif ist und noch ein paar Runden drehen muss. Das Thema Veränderung beschäftigt den kleinen Automobilzulieferer aber auf der Alb genauso wie internationale Unternehmen.
Reithwiesner: Der Reifegrad, sich mit Innovationen und Veränderung auseinanderzusetzen, ist sicher von Unternehmen zu Unternehmen unterschiedlich. Da gibt es jene, die noch nicht wissen, wie die Disruption auf sie wirken wird. Sie wissen nur, dass sie kommen wird. Und es gibt jene, die total entspannt sind, weil sie glauben, ihre Fertigkeit, ihre Produkte oder ihr Geschäftsmodell seien einzigartig. Aber das gilt natürlich nur so lange, bis kein Kunde das Produkt mehr braucht. So sieht aktuell die Bandbreite aus. Manche Kunden fragen wir auchganz offen, in welcher strategischen Position sie sich befinden. Es gibt nämlich auch Situationen, die man nicht mehr gewinnen kann. Das ist irgendwann der Firma Nokia klar geworden, die jetzt einen Neustart macht, weil sie das Rennen um das Smartphone nicht mehr entscheiden konnte. Die Winner-takes- all-Ökonomie hat sich in vielen Bereichen durchgesetzt. Deshalb werden wir zukünftig immer mehr Beispiele von Unternehmen sehen, die sich im Umbruch befinden.
Was ist Ihre Antwort darauf?
Reithwiesner: Unternehmen sollten rechtzeitig über ihre Strategie nachdenken. Denn in dem Moment, wo eine Kursänderung dringend erscheint, ist es bei den heutigen Rahmenbedingungen meistens schon zu spät. Nehmen Sie das Beispiel der Zeitung ‚FAZ‘. Dort gab es die strategische Entscheidung, sich bewusst gegen digitale Stellenportale auszusprechen, weil man schlicht die Print-Geschäfte mit großen Personalberatungen nicht verlieren wollte. Unmittelbar danach brachen sie weg. Oder schauen Sie auf ‚Quelle‘, die zwei Jahre vor der Pleite ihr profitabelstes Jahr hatten. Zu dieser Erkenntnis kommt man im Nachgang zwar immer leichter, aber ich glaube, dass das eigene Geschäft heute grundsätzlich immer disruptiert wird und ein Ablaufdatum hat. ‚Das wird schon noch halten‘, sollte man nie sagen, wenn man über sein Geschäftsmodell nachdenkt.
Hackenjos: Wir bezeichnen das als eine ‚gesunde Paranoia‘, die man mitbringen muss. Gerade in Zeiten der Stärke, in denen es vielen Unternehmen wirtschaftlich gut geht, sollten sie sich überlegen, wie ein Neuanfang aussehen könnte. Und zwar jetzt und bevor sie disruptiert werden. Diese Zögerlichkeit ist ein riesiges Problem für den Industriestandort Deutschland.
Inwiefern?
Reithwiesner: Die Industriepolitik, die mit Blick auf den Standort hier betrieben wird, ist eine Katastrophe. Punkt. Denn sie ist eine Sünde an den nächsten Generationen.
Von der Disruption, und dem Zaudern hierzulande, zum Ende noch einmal generell etwas zur Unternehmenskultur. Vermutlich gibt es kein Unternehmen, das eine ähnlich umstürzlerischere Erfahrung mit seinen Produkten hinter sich hat wie Haufe: Von einem Umsatzbringer zu 97 Prozent, den Gesetzestexten auf Papier, sind keine 3 Prozent mehr übrig, aber der Firma geht es besser denn je. Nur zur Verdeutlichung: Das ist, als hätte ein früherer Hersteller von Kabeltelefonen, Musikcassetten oder mechanischen Schreibmaschinen heute einen Rekordumsatz. Letzter Frageblock: Wie können sich Unternehmen neu erfinden, nach innen wie nach außen, optisch wie inhaltlich?
PERSONAL // FEHLERKULTUR // UNTERNEHMENSAUFTRITT
Helfen angesichts der von Ihnen geschilderten Rahmenbedingungen solche Lockerungsübungen, wie sie die deutsche Industrie gerade unternimmt? Stellvertretend das Youtube-Video von Daimler-Chef Dieter Zetsche, der mitoffenem Hemd am Rande einer Konferenz in Texas Cowboyhut und -Stiefel einkaufen geht?
Reithwiesner: Wenn es um das Thema Offenheit geht, schauen wir im weltweiten Vergleich ja gern auf die Amerikaner. Doch der Vergleich hinkt, denn dort passiert etwas völlig anderes: In den USA ist es völlig normal, dass viele Mittelständler und auch größere Unternehmen einfach abgewrackt und verkauft werden. Denn die Innovationen finden dann ganz woanders statt, etwa im Silicon Valley, in Boston und New York, oder in Hollywood. Das eine hört auf und das andere fängt an. Das ist das amerikanische Innovationsprinzip. Wir in Europa denken eher in existierenden Strukturen an Reformen. Meine Wahrnehmung ist deshalb sehr wohl, dass zunehmend engagierte Mittelständler und auch Großkonzerne zu uns kommen, weil sie ihr Unternehmen umbauen wollen. Zetsche hat schon thematisiert, dass er diesen Wandel nicht ohne eine grundsätzliche Kulturveränderung schafft. Bei Daimler spürt man auf der Direktorenebene die Euphorie darüber, jetzt anders zu sein. Und als Zeichen für diesen Wandel tragen sie nun Turnschuhe und T-Shirt. Der Kulturwandel ist angekommen, da bewegt sich etwas. Und das gilt auch für das Denken von Mittelständlern.
Hackenjos: Vielleicht klingt dieses Beispiel wie ein Widerspruch zu weniger hierarchischen Strukturen und Netzwerken, auf die wir in der Haufe Group setzen. Bei solchen Großkonzernen muss Veränderung von der Spitze kommen. Wenn der Chef eines Unternehmens nicht sagt ‚Ich will das‘, wird der Wandel kaum funktionieren. Die Bereitschaft der Mitarbeiter, etwas zu verändern, ist groß. Aber dann darf es keine Lehmschicht darüber geben, die den Veränderungswillen in der Endverantwortung blockiert.
Spüren das die Mitarbeiter bei Ihnen, dass Sie es anders leben?
Hackenjos: Ja, deshalb kommen sie auch zu uns. Wir versuchen regelmäßig im Rahmen eines Kamingesprächs auch ein Feedback der neuen Mitarbeiter einzuholen. Und dabei spüren wir auch, dass sie zu uns gekommen sind, weil hier Veränderung wirklich gelebt wird.
Reithwiesner: Man merkt einfach, dass es nicht funktioniert, wenn Veränderung nicht erkennbar ist. Der Tod einer jeden Digitalisierungsstrategie ist der CDO, der Chief Digital Officer an der Spitze: Das ist dann der Mann, der sich um die Digitalisierung im Unternehmen kümmert, und alle machen weiter wie bisher. Der CEO muss der CDO sein und das jedem einzelnen Manager vorgeben. So wie Zetsche das gemacht hat.
Hackenjos: Dabei kann eben manchmal auch die Symbolik der weggelassenen Krawatte helfen, um Veränderung sichtbar zu machen. Und dazu gehört auch, wie man mit Fehlern umgeht. Das heißt nicht, dass man sie umarmt. Sondern dass man aus ihnen lernt.