Das Wiesental gilt als eine Wiege der Textilindustrie. Warum ist das so, und wie hat sich die Branche bis heute entwickelt? Eine Spurensuche flussabwärts zwischen Todtnau und Lörrach.
VON SUSANNE MAERZ
Die Wiese mit ihrem weichen Wasser fließt vom Feldberg durchs erst enge, später weite Wiesental über Schönau, Zell und Maulburg nach Basel und dort in den Rhein. Die Menschen, die dort im 18. und 19. Jahrhundert meist auf verstreuten Höfen lebten, waren mehrheitlich arm und ungelernt. Viele von ihnen spannen seit dem Mittelalter in Heimarbeit Flachs zu Leinen und webten an einfachen Handwebstühlen daraus Stoffe für ihre Kleidung. Sie verfügten über Know-how und waren billig – ideale Voraussetzungen für das Entstehen von Textilfabriken. Das nötige Kapital lieferten Unternehmer aus der nahen Schweiz und zum Teil auch aus Frankreich. Im Wiesental gab es zudem den nötigen Platz für neue Fabriken, der rund um Basel fehlte.
„Unternehmerfamilien wie zum Beispiel Montfort, Merian, Geigy, Sarasin, Bölger, Iselin und Köchlin haben hier investiert und das Wiesental zur Textilhochburg aufgebaut“, sagt Andreas Müller, stellvertretender Vorsitzender des Vereins Wiesentäler Textilmuseum, beim Gang durch die Ausstellung. Das Gebäude mit seinen vielen Webstühlen aus vorindustrieller und industrieller Zeit ist fast alles, was von der Textilindustrie in Zell an der Wiese übriggeblieben ist.
Schweizer und Franzosen investieren
Deren Grundstein legte Meinrad Montfort aus Zell im Wiesental. Er beschäftigte Ende des 18. Jahrhunderts rund um Zell bis zu 2000 Heimarbeiter. Auf ihren Höfen spannen und woben sie für Montfort, der die Stoffe in seinen Bleichen unter anderem in Zell weiterverarbeitete. 1808 legten die Brüder Köchlin aus der Schweiz ihr Kapital in der Region an und übernahmen die 1752 gegründete Indienne-Fabrik Lörrach. Unter dem Namen Köchlin, Baumgartner & Cie. – heute KBC Fashion – avancierte sie zum Weltkonzern, der in seiner Blütezeit Ende der 1980er-Jahre laut Wikipedia 1,3 Milliarden Mark umsetzte.
Dietrich Iselin aus Basel gründete die Spinnerei und Weberei Iselin & Co., die ab 1841 mit 190 Menschen in Schönau-Brand in Betrieb ging. Das Unternehmen fusionierte später mit der Mechanischen Weberei Zell zur Zell-Schönau AG, die wiederum in der Zeit des Wirtschaftswunders mit Bettwäsche der Marke Irisette weit über die Region hinaus bekannt wurde. „Es war Europas erste farbig gewobene Bettwäsche“, berichtet Andreas Müller. Und eine Erfolgsgeschichte.
Die Textilbranche entwickelte sich zum Industriezweig, als ab 1830 maschinelle Spinn- und Webmaschinen erst mithilfe von Wasserkraft und später von Dampf angetrieben werden konnten. Die Industrialisierung revolutionierte das Wiesental. Unzählige Fabriken entstanden. Andreas Müller berichtet: „An der Wiese gab es alle 500 bis 800 Meter eine Spinnerei, Weberei, Färberei oder Schlichterei.“ Im Jahr 1965 arbeiteten in der Region 20.000 Frauen und Männer in der Textilindustrie. Allein in Zell mit seinen damals 5000 Einwohnern waren es laut Müller 2200 Menschen in drei Werken.
Niedergang des Industriezweigs ab den 1970er-Jahren
Bald kündigte sich allerdings der Niedergang der Branche an. Beispiel Zell-Schönau AG: Sie beschäftigte in ihren verschiedenen Standorten im Spitzenjahr 1972 rund 4000 Menschen. Sechs Jahre später waren es nur noch halb so viele. Im Juni 1992 lediglich 550. In jenem Jahr schloss auch die Weberei in Zell ihre Tore. „In den 1980er-Jahren ist eine Fabrik nach der anderen weggebrochen, in den 90er-Jahren war bei den meisten Schluss“, sagt Müller.
1992 war die Zahl der Beschäftigten in der Branche auf rund 8500 zurückgegangen. Die meisten Fabriken konnten mit der nach und nach entstandenen Konkurrenz erst aus Billiglohnländern wie China, Taiwan oder der Türkei und später dann auch aus Osteuropa nicht mithalten, wie der Kulturwissenschaftler Guido Fackler schreibt. Viele wurden ganz oder zum Teil verkauft. Manche überdauerten noch eine Weile. Zwei Beispiele: Die 1932 gegründeten Medima Werke Karl Scheurer, die für ihre Angorawäsche mit dem Hasenlogo bekannt waren und bis zu 800 Menschen beschäftigten, hielten bis zum Jahr 2001 durch. Und die Lörracher, auf Afrikadamast spezialisierte Firma Textilveredelung an der Wiese, die 1996 als Management-Buy-out die Insolvenz der einst riesigen Lauffenmühle überdauert hatte, schloss dann doch im Frühjahr 2020.
Heute zählt der Verband Südwesttextil nur noch neun Unternehmen aus dem Wiesental zu seinen Mitgliedern. Das Statistische Landesamt führt fünf Hersteller von Textilien im Landkreis Lörrach in seiner Statistik (Stand September 2021) – dass es weniger sind als beim Verband gelistet liegt daran, dass das Amt erst Betriebe ab 20 Mitarbeitenden zählt. Die meisten behaupten sich in einer Nische.
Was heute von der Branche übrig ist
Zu den zwei ältesten noch bestehenden Textilunternehmen zählen die Textilwerke Todtnau Bernauer. Sie wurden 1829 in Todtnau gegründet. Früher, so berichtet Geschäftsführer Hanspeter Bernauer, sei das Unternehmen eines von vielen Baumwollspinnereien und -webereien gewesen. Die Geschichte war, typisch für die Branche, wechselvoll. „Wir haben überlebt durch Diversifizierung“, sagt Bernauer. Zur Firmengruppe gehören heute fünf Unternehmen. Und statt Baumwoll- werden Kunststoffprodukte hergestellt – allen voran ein spezielles Gewebe für die Reifenindustrie, das unter dem Markennamen Beratex vertrieben wird.
In Schönau-Brand hingegen wird in den historischen Irisette-Gebäuden schon seit Beginn der 1990er-Jahre nicht mehr produziert. Nur der Werksverkauf des Unternehmens, das heute seinen Sitz im Münsterland hat, zeugt von dem, was dort einmal war. Indes haben insgesamt 20 weitere Mieter, darunter der Maschinenbauer Heinzmann Motorentechnologie, in den historischen Gebäuden eine Heimat gefunden. Die Schmidt Grundstücksverwaltung aus Bernau, der das Gebäude seit 1997 gehört, sorgt dafür, dass es belebt bleibt. In Zell, wo Irisette ebenfalls einen Werksverkauf betreibt, gibt das Textilmuseum Zeugnis von den Hochzeiten der Branche.
Die Hallen der ehemaligen Sockenfabrik in Schopfheim-Langenau, in der bis Anfang der 2000er-Jahre die Arlington Socks GmbH & Co. KG Socken ihrer Lizenzmarke Burlington fertigte und damit einige Millionen im Jahr umsetzte, füllen heute mehrere Mieter mit Leben. Einer davon produziert dort seit rund drei Jahren technische Textilien: die A+M GmbH. Diese haben Abda und Michael Hitz im ersten Coronajahr gegründet und fertigen dort seitdem im eigens eingerichteten Reinraum medizinische Gesichtsmasken. Inzwischen sind es weniger als noch während der Pandemie. Die Geschäfte laufen trotzdem: „Wir haben zwei Unternehmen aufgekauft, um breiter aufgestellt zu sein, wenn das Geschäft mit den Masken nachlässt“, sagt Abda Hitz. Inzwischen vertreiben sie auch Kleidung und Verbrauchsmaterialien für die Bereiche Pflege, Heim und Praxis sowie über einen extra Onlineshop Berufsbekleidung aller Art.
Flussabwärts geht es weiter nach Maulburg: Hierhin hat Anfang 2022 die Firma KBC von Lörrach ihren Firmensitz verlegt. In den Räumen produzierte früher das Unternehmen GST, das nach wie vor seinen Hauptsitz in Bad Säckingen hat, Stoffe für Airbags. KBC selbst, einst größte Textildruckerei Europas, gehört inzwischen der italienischen Imprima-Gruppe und produziert in der Nähe von Como. Von Maulburg aus kümmern sich knapp 20 Mitarbeitende um Design und Vertrieb.
Alte und neue Unternehmen im Zentrum der Branche
In Lörrach, dem historischen Zentrum der Wiesentäler Textilindustrie, finden sich noch heute die meisten Unternehmen der Branche. Sechs listet der Verband Südwesttextil auf. Auf dem Gelände der ehemaligen Seidenweberei in Lörrach-Tumringen hat die Oberbadische Bettfedernfabrik seit 1948 ihren Sitz. Hier baute der Gründer nach dem Zweiten Weltkrieg sein in Ostpreußen gestartetes Unternehmen wieder auf, das heute mit einer Stammbelegschaft von gut 50 Mitarbeitenden rund 350.000 Kopfkissen, Bettdecken und Kleinteile pro Jahr fertigt. „Nach wie vor findet die Produktion in Lörrach statt“, sagt die geschäftsführende Gesellschafterin Petra Schweigert. Inletts, Kissenhüllen, Daunen und Federn werden zugekauft, in Lörrach verarbeitet, verpackt und weltweit versendet.
Der älteste noch bestehende textile Arbeitgeber der Stadt sind die Technischen Textilien Lörrach. Die Wurzeln liegen in der 1838 gegründeten Tuchfabrik Lörrach, die wiederum 1872 die erste Aktiengesellschaft im Wiesental wurde, in den 1880er-Jahren bis zu 200 Mitarbeitende beschäftigte und auf eine wechselvolle Geschichte zurückblicken kann. Heute produziert das Unternehmen mit rund 50 Mitarbeitenden vor allem Filze für diverse industrielle Anwendungen.
In der alten Spinnerei hingegen, ebenfalls am Lörracher Gewerbekanal „Teich“ gelegen, ist nach der aufwändigen Renovierung im Jahr 2010 ein Gewerbepark entstanden. Der Mix der Mieter reicht von einer Kleintierpraxis über die Lebenshilfe bis hin zu einem Anbieter von Lagerboxen und füllt das Gemäuer aus dem 19. Jahrhundert mit Leben. Andere, ehemals von der Textilindustrie genutzte Gebäude, stehen indes leer.
Die Wasserkraft der Wiese wird nach wie vor genutzt – immer wieder fährt man beispielsweise an Kraftwerken vorbei, die die Firma Energiedienst betreibt. Die vielen, seit Jahren geschlossenen Färbereien waren indes der Grundstein für die Chemieindustrie, die die Region rund ums Wiesental prägt. Dafür haben sich entlang der Wiese längst andere namhafte Industrieunternehmen angesiedelt – neben Heinzmann sind dies zum Beispiel Hella in Zell und Wembach, Mahle in Zell oder Endress + Hauser sowie Busch Vacuum Solutions in Maulburg. „In den neuen Unternehmen“, berichtet Andreas Müller vom Zeller Textilmuseum, „sind auch viele Arbeiter aus den geschlossenen Textilfabriken untergekommen.“
1 Kommentar
Sie meinen sicherlich die Brennet AG, die aus Wehr stammt und ihren Hauptsitz daher nicht im Wiesental hat. Nein, vergessen habe ich sie nicht – aber angesichts der Fülle an Unternehmen war es mir nicht möglich, alle einst bedeutenden Unternehmen der Textilindustrie mit Standorten im Wiesental zu nennen.