Arbeit für alle – das setzt noch einige Anstrengungen rund um Inklusion und Teilhabe voraus. Über gute und schlechte Nachrichten für Menschen mit Behinderung.
VON RUDI RASCHKE
Kurze Warnung: Diese Ausgabe von netzwerk südbaden bleibt extrem unvollständig. Weil wir zum Titelthema auch gut 150 Seiten mit Inklusions-Geschichten aus unserer Region zusammenstellen hätten können. Die Beschränkung auf das Vorliegende war definitiv keine Geringschätzung weiterer Themen. Sagen wir offen, was auch zu diesem Thema gehört hätte: Inklusion und Teilhabe im Bildungswesen, einfache Sprache, digitale Unterstützung und Arbeit, Sport von Menschen mit Behinderung und vieles, vieles mehr.
Vom erweiterten Inklusions-Begriff, der entlang von Fragen der „Charta der Vielfalt“ auch Schnittmengen zu Diversitäts-Themen aufweist, ganz zu schweigen. Wir haben uns am Ende auf Geschichten aus der südbadischen Unternehmenswelt und auf Einzelporträts von Akteuren mit Behinderung beschränkt, den Arbeitsmarkt beleuchtet und uns in einem Fall auch über das Thema „Angehörige“ genähert.
Jenseits dessen, was hier noch alles dazu gehört und nicht aufgenommen werden konnte, steht nach vier Wochen intensiver Beschäftigung diese Erkenntnis: Das Thema geht uns alle dauerhaft an und sollte viel regelmäßiger in die eigene Arbeit einfließen. Der Begriff der „Inklusion“ dürfte im zurückliegenden Jahrzehnt mit Sicherheit eine deutliche Steigerung des Bekanntheitsgrades erfahren haben (Die daraus abgeleitete „Teilhabe“ erklärt sich inzwischen von selbst).
Dass „inklusiv“ als Gegenteil zu „exklusiv“, also dem Ausschließlichen, funktioniert, dürfte vielen Menschen bekannt sein. Dass der Begriff aus der Mathematik, genauer der Mengenlehre, das Enthaltensein ableitet, ist wenig bekannt. Spannend insofern, als mit der „Resilienz“ gerade ein weiterer Begriff aus einer Naturwissenschaft, der Physik, in Medizin und Psychologie Furore macht.
Jenseits der Bekanntheit bei möglichst vielen Menschen halten sich aktuell die guten und die schlechten Nachrichten über und für Menschen mit Behinderung die Waage: Selbst als hart-gesottener Optimist will man keine abschließende Einschätzung treffen, ob Inklusion und Teilhabe in den zurückliegenden Jahren nun richtig gut voran gekommen sind oder nicht. Für die guten Nachrichten sprechen Ereignisse mit Symbolcharakter.
Wenn beispielsweise mitten in Freiburgs historischem Zentrum, direkt hinter dem Münster, ein von Kirche und Caritas eröffnetes „Cafe Inklusiv“ an einem schönen Platz für Arbeit und Aufmerksamkeit sorgt, ist das mehr als ein Hoffnungsschimmer am Rande. Wie überhaupt gastronomische Angebote mehr und mehr Teilhabe ermöglichen.Auch, dass immer mehr Websites auftau-chen, die vorbildlich nicht nur Hilfsange-bote listen, sondern einfach schöne Pra-xisbeispiele wie unter „inklusion-gelingt.de“ versammeln, zeigt, was heute bereits alles möglich ist. (Lieblingsmeldung: ein ein-Frau-Betrieb hat einen Mitarbeiter mit Behinderung eingestellt.)
Hinzu kommen Punkte zu Fachkräftemangel und Digitalisierung: Inklusion kann helfen, geeignetes Personal finden und stellt in beiden Fällen auch für Menschen mit Behinderung eine Chance dar, teilweise in technischen Berufen, im Fall der Software-Branche sind Menschen mit Autismus oder Asperger (beides nicht in allen Fällen als Behinderung gewertet) gefragt.
Auf der anderen Seite ist die Situation für Menschen mit Behinderung gerade in der Pandemie vielerorts erschwert worden. Am Rande der Paralympics in Tokio wurde bekannt, dass der Deutsche Behindertensportverband (DSB) während eineinhalb Jahren 100.000 seiner 650.000 Mitglieder verloren hat.
Das „Inklusionsbarometer“, ein von der Aktion Mensch gemeinsam mit dem Handelsblatt Research Institute jährlich erscheinender Bericht, kommt zu ähnlich drastischen Zahlen: Der Lockdown im März hat vor allem die Arbeitslosenzahl unter Menschen mit schwerer Behinderung in Deutschland enorm steigen lassen, auf einen Durchschnitt, wie es ihn zuletzt 2016 gab.
Die traurige Erkenntnis: „Die seitdem gemachten Fortschritte bei der Einbindung von Menschen mit Behinderung in den allgemeinen Arbeitsmarkt sind durch die Folgen der Corona-Pandemie zunichte gemacht“ schreiben die Herausgeber. Wenn es um „Arbeit für alle“ geht, wie es unser Titel bewusst doppeldeutig mit dem Wunsch nach Vollbeschäftigung für möglichst viele ausdrückt, liegt einiges im Argen.
Da ist zum einen noch immer die Situation bei den Behindertenwerkstätten. Die UN kritisierte Deutschland bereits dafür, dass diese Einrichtungen immer noch finanzielle Fehlanreize schafften, die Menschen mit Behinderung an einer Teilhabe am allgemeinen Arbeitsmarkt hindern. Werkstätten nach deutschem Modell seien dazu angetan, Arbeitgeber eher von der Schaffung barrierefreier Arbeitsplätze abzuhalten als diese zu fördern.
Die Werkstätten sind für Vertreter von Menschen mit Behinderung schon länger ein Reizthema: Wegen der Arbeitsbedingungen, der Inanspruchnahme von Zuschüssen bei gleichzeitigen Niedriglöhnen und der Abwicklung von Aufträgen aus der freien Wirtschaft, die damit ebenfalls Geld spart. So ließe sich in Kürze zusammenfassen, was viele an den Einrichtungen stört. Die übrigens seit Jahren Plätze erweitern, obwohl die Zahl der Menschen mit Behinderung seit 2001 zurück geht. Was aber nicht heißt, dass das schlechte Image auf alle zurück fallen muss.
Ein letzter Absatz noch zur Arbeitswelt für Menschen mit Behinderung: Zur Ambivalenz gehört auch eine immer stärkere Flexibilisierung auf dem Arbeitsmarkt, mit modernen Teilzeit- und Projektmodellen. Die es immer schwerer machen für Menschen, die langsamer sind oder nicht zu Höchstleistungen in der Lage. Darauf weist das GDI, das Gottlieb-Duttweiler-Institut hin. „Automatisierung, Digitalisierung und flexiblere Lebensstile“ erhöhten generell die Inklusionshürden.
Auf der anderen Seite seien Digitalisierung, Vernetzung und Robotik auch dazu angetan, mehr Barrierefreiheit zu ermöglichen. So sehr die Herausforderungen für die Betroffenen insgesamt steigen mögen, ermittelte das GDI, steigt auch die soziale Akzeptanz von Menschen mit Behinderung. Es wird trotzdem noch länger Unternehmen geben, die ohne Wimpernzucken die Ausgleichsabgabe für deren Nicht-Beschäftigung bezahlen. Auf Dauer werden aber jene Firmen, die Inklusion für sich ablehnen, insgesamt Probleme bei der Personalfindung bekommen. Und das ist eine gute Nachricht.