In der Popmusik wurde schon immer geschummelt. Meistens aber nur ein bisschen und nicht so heftig wie bei Milli Vanilli. Der Freiburger Musiker und Produzent Zeus B. Held (Jahrgang 1950) betreute in den Achtzigerjahren in London bekannte Acts musikalisch und kannte den kürzlich verstorbenen Frank Farian. Im Interview erzählt er, was damals möglich war und heutzutage gang und gäbe ist.
INTERVIEW: JOACHIM SCHNEIDER | FOTOS: ALEX DIETRICH
Der Film über das Duo Milli Vanilli handelt von dem Skandal, dass die beiden Tänzer nicht selbst gesungen haben. Für Sie auch eine Schande?
Leider habe ich den Film noch nicht gesehen – aber mir ist dieser Skandal bekannt. Ein einfacher, wenn auch gefährlicher Marketingplan, der ja dann in die Hose ging. Ich habe Anfang der Achtzigerjahre den Boney M.-Frontmann Bobby Farrell kennengelernt, und er hat mir damals sein Herz ausgeschüttet. Da war die Sachlage offensichtlich ähnlich – aber etwas einfacher.
Der durfte auch nicht singen, nur tanzen. Was hat er Ihnen erzählt?
Er hätte gerne eine Solokarriere gehabt. Tja. Um ein erfolgreicher singender Tänzer zu werden, bedarf es noch mehr Multitalent und Stimmkondition – und das richtige Projekt. Es ist eben schwer, an Gene Kelley oder Fred Astaire heranzukommen und einen Produzenten wie Frank Farian zu überzeugen.
Dann waren Sie mit Farian quasi einer Meinung?
Letztlich geht es um das Produkt! Ich habe Frank Farian 1980 kennen- und schätzen gelernt im Zusammenhang mit Boney M. und Eruption. Er ist gelernter Koch und verstand das Sinnliche in der Musik. Damit meine ich: Er kannte sich aus mit den Zutaten für ein opulentes Mahl. Boney M. übrigens war damals mal Vorgruppe von Birth Control. Das Quartett sang und tanzte zu Musik vom Band. Und ein paar Jahre später war mein Projekt Gina X Performance die Vorband von Boney M. vor 10.000 Zuschauern in der Wiener Stadthalle.
War es seinerzeit gängige Praxis, schönen Männern und Frauen bei ihren Stimmen oder instrumentalen Fähigkeiten etwas nachzuhelfen?
Nun ist das ja nicht nachhelfen, sondern ersetzen. Und ersetzen konnte man als Produzent nur charakterlose Stimmen, zum Beispiel bei schwierigen Stellen in einem Song. Der Zuhörer sollte das nicht merken. Das Nachhelfen ist in der Popmusik-Produktion üblicher: mit backing vocals, harmony vocals, eine Brise Vocoder. Damals waren die technischen Möglichkeiten im Studio schon groß, aber live auf der Bühne war das nicht alles umzusetzen. Bei meinen damaligen Vocoder-Produktionen war es so gut wie unmöglich, diesen Sound live zu reproduzieren. Daher wurden zum Beispiel bei den großen Liveshows der Rockets die „On the Road again“-Vocoder-Parts vom Mischpult aus zugespielt. Das war übrigens auch bei der Gruppe Queen der Fall, wenn sie „Bohemian Rhapsody“ performten. Deshalb gab es eben Vocal-Einspielungen, von denen das Publikum nichts wissen sollte.
Herrschte in den Achtzigern so eine Art Technikverliebtheit? Es wurde viel aufgepeppt, manches klingt für heutige Ohren nach Plastik, während Vocoder-Effekte, dieser Astronauten-Sing-Sang, wieder angesagt ist.
Das alles hat auch mit den jeweiligen Hörgewohnheiten und dem Musikstil zu tun. Gibt es neue technische Möglichkeiten, Klänge zu generieren, werden sie auch eingesetzt.
Als guter Keyboarder haben Sie doch auch ab und an im Studio getrickst, ersetzt oder nachgeholfen, oder?
Das Studio ist eben nicht nur eine Werkstatt, sondern auch ein Soundlabor. Es kommt ja immer auf den Stil, das Ziel und die Begabung der Beteiligten an. Ein berühmter Produzentenkollege sagte mir mal: ,Im Studio wird der Alchemistentraum wahr – man kann aus Scheiße Gold machen.‘
An welche anderen Anekdoten aus Ihrem Produzentenleben erinnern Sie sich?
Ich hatte mit der Band Fashion für die Sendung „Top of the Pops“ die Musik in einem BBC Studio aufgenommen. Für diese Chartshow wird der Song noch mal live eingespielt – und da saß ein Mann der „Musicians Union“ im Studio und hat genau überprüft, ob die Musiker, die live dabei sind, auch wirklich die Spieler sind. Das war also ein Versuch der Musikergewerkschaft UK die Musik ehrlich zu halten. Schon damals wussten die meisten Musiker und Fans: Die Grenze zwischen Schein und Sein ist fließend.
Und? Konnten es die Jungs dann auf der Bühne?
Die Fashion Jungs sahen bei ihren Auftritten super aus. Und der Sound war wie im Studio. Und ich habe nur ganz wenig am Mischpult nachgeholfen …
Welchen bekannten Stars mussten Sie stimmlich nachhelfen?
Da muss ich mich jetzt doch ein wenig an mein Berufsgeheimnis halten. Hört euch meine Produktionen an: von Gina X über Dead Or Alive bis zu Transvision Vamp. Es geht beim Gesang letztlich um Emotion, Dynamik und das Vermitteln einer Geschichte. Das muss flüssig sein, und man sollte beim Wiederhören immer wieder neue Nuancen entdecken können.
Zurück in die Gegenwart: Was ist heutzutage alles möglich? Stimmen werden verfremdet oder verbessert und das in Echtzeit. Muss man noch singen können?
Mit der Echtzeit geht es eben über das Auto-Tune-Pedal oder einem Plug-in im computergesteuerten Mischpult. Das klappt bei Hiphop und Rap sehr gut. Bei Madonnas Auftritt anlässlich des Eurovision Songcontest 2019 ging es schief – im wahrsten Sinne des Wortes. Dabei war es schon umwerfend, wie nach 90 Minuten die digitale flex-pitched Version unter dem offiziellen Live-Video-Clip lag – und alles Stimmliche wieder gestimmt hat. So schnell kann man mit Technik aus einer miesen Gesangsperformance eine überzeugend gelungene machen.
Mit entsprechender Technik kann man gar nicht falsch singen?
Genauso ist es. Aber es gibt auch echte Charakterstimmen, die wollen wir gar nicht 100 Prozent richtig hören: Tom Waits oder Edith Piaf mit Auto-Tune wäre doch ein Desaster.
Mit Auto-Tune lässt sich alles schneller machen, ohne dass die Stimme wie Micky Maus klingt. Das nervt viele. Musik ist doch kein Sport.
Über Geschmack kann man streiten. Was den einen in der Musik nervt, findet der andere cool. Denk doch mal an die Falsetto-Stimmen in „Saturday Night Fever“ von den Bee Gees, die gefallen auch nicht jedem. Andererseits arbeite ich gerade mit einem Brasilianer zusammen, der ist unglaublich schnell beim Rappen und Singen. Der ist mit diesem Tempo aufgewachsen und bekommt das auch ohne Auto-Tune und digitale Manipulation hin.
Mittlerweile gibt es Akademien und Hochschulen für angehende Popstars, handwerklich sind ja alle spitze im Vergleich zu damals. Leidet da nicht die Originalität – oder was raten Sie denen?
Auch wenn man offensichtliches Talent zum Kreieren und Performen hat, hilft es, wenn man sein Musikhandwerk erlernt. Dazu gehören Spieltechnik, Rhythmik und harmonisches Verständnis. Darunter muss nicht die Originalität leiden. Man sollte als Musiker jedweder Schattierung über die digitalen und technischen Möglichkeiten Bescheid wissen – und sie im Idealfall auch selbst anwenden können.
Sie waren Keyboarder bei Birthcontrol und sind seit gut zwei Jahren Mitglied bei der Krautrock-Legende Guru Guru. Das neue Album mit Ihnen als Produzent und Keyboarder wurde allerorts gefeiert. Ein bisschen stolz?
Ach ja, das war schon ein Balanceakt zwischen dem über die Jahrzehnte gewachsenem Guru Guru-Stil und meinem Anspruch als Producer. Und ich glaube, wir haben da eine organische Symbiose gefunden, die sich auch als Liveband überzeugend umsetzen lässt.
Was haben Sie sonst noch in der Pipeline?
Neben diversen Wiederveröffentlichungen und Best-ofs meiner eigenen und Gina X Performance-Alben, arbeite ich an einem Soundtrack mit Dream Control und entwickele mit zwei jungen Talenten eine neue und unwiderstehliche Stilmischung aus hot and cold. Lasst euch überraschen!