Wir benötigen einen neuen Umgang mit der Ressource Zeit!
Fast 200 Jahre spielte bei der Bewertung der Arbeitsleistung die Arbeitszeit eine zentrale Rolle. Entlang eines Stundenlohnes berechnet sich der Verdienst. Auch wenn Angestellte über Gehalt sprechen, ist im Arbeitsvertrag dafür die genaue Arbeitszeit festgelegt. Es gehört zweifelsohne zu den großen Errungenschaften unseres Fortschrittes, dass wir heute nur 40 statt 50 bis 60 Stunden wie unsere Großeltern arbeiten. Nun soll es rund um „New Work“ vielleicht ein ganz neues Ding geben?
Bei dem es vielleicht keine festen Arbeitszeiten mehr gibt? Die Arbeit irgendwann und irgendwo erbracht werden kann? Und die Work-Life-Balance im Mittelpunkt stehen soll? Schließlich gilt heute immer noch die Maxime: Wer keine Zeit hat, der ist wohl im Beruf fleißig, strengt sich an und ist erfolgreich. Der Prototyp einer Gesellschaft, die sich so stark über ihre Erwerbstätigkeit definiert. Daraus lässt sich erahnen, dass es noch etwas Weg zurückzulegen gibt. Welche Grundannahmen sollten wir dazu in unserer Arbeitswelt auf den Prüfstand stellen?
Irrtum 1: Präsenz = Produktivität
Teilweise bekommen Chefs hektische Flecken, wenn sie sich vorstellen, dass die Mitarbeiter von zuhause aus arbeiten. Im Kopfkino stellen sich manche vor, wie zwischen Bügelbrett und Nutella-Brot auf der Tastatur herumgetippt wird. Flexibilität und Engagement sind klasse, aber der Kontrollverlust stellt Chefs vor eine harte Prüfung. Aber wie läuft es denn normalerweise im Büro? Es ist schnell sichtbar, wenn Kollegen zu oft und zu lange in der Raucherecke stehen oder sich gefühlt die meiste Zeit an der Kaffeemaschine rumlümmeln.
Solange die Kollegen vor dem Bildschirm sitzen und ans Telefon gehen, wenn es läutet, ist alles ok! Aber woher hat man die Sicherheit, mit was man sich wirklich beschäftigt? Vielleicht wird nur die Zeit abgesessen, im Internet gesurft oder mit Freunden gechattet? Aber irgendwie fühlt es sich für Chefs besser an? Vermutlich, weil es der – in die Jahre gekommenen – Norm entspricht. In diesen Tagen macht die Wirtschaft notgedrungen mit der Corona-Krise einen Crash-Kurs. Und siehe da, es funktioniert und etabliert sich an vielen Stellen, was vorher ausgeschlossen wurde. Sicherlich gibt es Geburtsschmerzen und es gilt weiterhin Erfahrungen zu sammeln, was das für unsere Arbeitsweise und Zusammenarbeit bedeutet. Aber es sprechen viele schon von Durchbruch für das Home-Office.
Irrtum 2: Gut Ding braucht Weile
Arbeit nimmt sich so viel Zeit, wie sie bekommt. Als ehemaliger Agenturmensch habe ich x-fach die Erfahrung gemacht, dass man Aufgaben solange vor sich herschiebt, bis letztendlich die Zeit knapp wird und man mit dem Rücken an der Wand steht. Es kam dann auch zur Spätschicht, obwohl man sich am Anfang noch gefeiert hat, dass es bei dem Projekt wohl nicht dazu kommen wird. Aber auch jeder andere kennt diesen Effekt aus der letz- ten Woche vor dem Jahresurlaub.
Ist es nicht fast schon magisch, was man in dieser einen Woche so alles durchgeschaukelt bekommt? Diese Woche ist super produktiv. Warum ist das so? Es gibt keine Ausflüchte, kein Aufschieben und keine faulen Kompromisse. Es ist klar: In dieser Woche werden Nägel mit Köpfen gemacht. Was kann man für die restlichen Arbeitswochen daraus lernen? Wie kann ich mich selbst Woche für Woche so führen, als würde es nur diese Woche (vorm Urlaub) geben? Wie konsequent gehe ich mit mir, mit den Aufgaben und meinem Umfeld um?
Und das wird in Zukunft nicht weniger anspruchsvoll, wenn man quasi als Ressource in einem virtuellen Projekt-Team irgendwo sitzt. Ohne den gemeinsamen Büroalltag zu teilen. Auch in Corona-Zeiten kann man sich manchmal die Augen reiben, wie schnell plötzlich Projekte umgesetzt werden können. Wie konstruktiv plötzlich Meetings ablaufen, obwohl nicht alle im Büro sind – vielleicht auch gerade deswegen. In der Krise steckt hier auch eine Kraft. Die Sinne sind geschärft. Es ist allen klar, was zu tun ist. Vielleicht können die Kollegen diese positiven Erfahrungen für normale Zeiten retten.
Irrtum 3: Teilzeitkräfte = halbe Kräfte
Auch wenn es zum Glück nicht mehr so ist, dass man meint, den Teilzeitkräften nur einfache Aufgaben übertragen zu können. Teilzeitkräfte haben das Manko, nicht immer da zu sein. Das sind zwar andere Kollegen auch nicht, aber als Teilzeitkraft hat man offenbar ein großes Schild auf seinem Kopf, auf dem das in übergroßen Buchstaben steht. Natürlich gibt es auch die Situation, an der Herr Meier auch mal nicht verfügbar ist. Aber bezüglich Produktivität ist genau das Gegenteil der Fall.
Wer Teilzeit macht, ist oftmals per se schon einmal besser organisiert als Vollzeitkräfte. Das liegt in der Natur der Sache. Und nimmt früh morgens schon seinen Lauf. Während Vollzeitkräfte ihren Ruhepuls zum ersten Mal mit dem Gang zur Kaffeemaschine im Büro überschreiten, haben Teilzeitkräfte vielleicht vorher schon die Kinder aus dem Bett geholt, dafür gesorgt, dass diese angezogen sind, ihnen Frühstück gemacht und sie in den Kindergarten gebracht.
Sie wissen in der Regel ziemlich genau, was sie bis 15 Uhr fertig haben wollen, bevor dann die Großeltern versorgt werden müssen oder welche Aufgaben bei Ihnen auch immer auf dem Plan stehen. So ist für Teilzeitkräfte fast jeder Tag wie „die Woche vor dem Urlaub“. Und oft stehen sie mehr unter Strom als Vollzeit- Kollegen. Das ist auch kein Wunder, bei dem Programm, welches sie stemmen. Und manchmal haben sie noch das Gefühl, sich beweisen zu müssen, um als vollwertige Kollegen wahrgenommen zu werden.
Irrtum 4: viel Zeit = viel Glück
In einer gehetzten und eng getakteten Welt sehnen sich alle danach, endlich einmal viel Zeit zu haben. Neidisch werden Menschen beäugt, die in den wohlverdienten Ruhestand gehen. Zu Corona-Zeiten können viele Menschen in Quarantäne oder Kurzarbeit erste Erfahrungen sammeln, wie es ist, viiiieeeeeel Zeit zu haben. Natürlich wird das überschattet von Sorgen und viel Ungewissheit.
Aber wer es schafft, das für einen Moment auszublenden, der kann darin auch den Charakter eines Experiments im Umgang mit Zeit entdecken. Endlich kann ich das Buch lesen, was ich schon lange lesen wollte. Die Serie auf Netflix schauen, zu der es bisher nicht gereicht hat. Die längst überfällige Steuererklärung machen. Gespräche mit meinem Partner zu führen und mich längst mal fernmündlich bei Freunden zu melden. Und meinen Hobbies nachzugehen – ah ja… welche waren das noch einmal?
Spätestens in der zweiten Woche schwappt der Überfluss an Zeit in Überdruss. Das wird aktuell verstärkt, da normalen Freizeitaktivitäten nicht nachgegangen werden kann (zum Sport ins Fitness-Studio, abends mit Freunden treffen, etc.). Aber im Kern steckt vielleicht eine Erkenntnis, dass wir den Umgang mit Zeit und deren Ausgestaltung verlernt haben? Ist die treibende Struktur weg, besteht für manche die Gefahr, dann in ein Loch zu fallen. Und sich dann genau nach dem zu sehnen, vor dem man weggerannt ist.
Kein Selbstläufer, aber machbar 😉
Die Herausforderung bei Work-Life-Balance wird nicht nur sein, die Arbeitszeiten und die Arbeitsbedingungen in den Griff zu bekommen. Das gilt es auf der betrieblichen Seite in Abläufe zu integrieren und im Geschäftsmodell abzubilden. Aber auf jede Privatperson kommt auch die Aufgabe zu, die entstehenden Freiräume mit sinnstiftenden Aufgaben auszufüllen. Schließlich soll die ganze Übung zum Ziel haben, die persönliche Zufriedenheit und das eigene Wohlbefinden zu steigern. Das klingt einfach, wird aber für den einen oder anderen anspruchsvoll sein.
Udo Möbes ist selbstständiger Berater, Trainer und Business- Coach und betreibt seit 2015 mit seiner Frau Ulrike Peter das Seminarhaus „Saiger Lounge“ im Schwarzwald. Er begleitet Change-Prozesse in Unternehmen und coacht Geschäftsführer-Teams oder einzelne Führungskräfte. Für das Digital-Unternehmen Virtual Identity mit 180 Mitarbeitern in Freiburg, München und Wien war er zuvor 16 Jahre lang an der Spitze tätig, davor arbeitete er 11 Jahre für die Haufe Mediengruppe. Udo Möbes gibt an dieser Stelle regelmäßig seine Erfahrungen mit Coaching- Themen an unsere Leser weiter. www.moebes.de
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