Wie die Umkehrung der Verantwortung vieles erleichtert.
VON UDO MÖBES
Vermutlich wird fast nirgendwo mehr über Ziele gesprochen als im Business. Daher gehört es auch zum kleinen Einmaleins einer Führungskraft, mit Zielen zu arbeiten. Und daraus entsteht logischerweise Teil zwei der Stellenbeschreibung: Die Erreichung der vorgegebenen Ziele zu überprüfen. Jetzt mal Hand aufs Herz, liebe Führungskraft: Wie würde es ihnen gehen, wenn sie ihr eigener Mitarbeiter wären?
Zum Jahresende kommt ein Chef ums Eck und sagt: „Nächstes Jahr müssen wir unseren Gewinn um 20 Prozent steigern!“ Was löst das bei ihnen aus? Sie heben die Hand zum high-five und gehen sofort motiviert ans Werk? Wirklich? Wahrscheinlicher ist doch, dass das Ziel sofort Druck, Angst oder Unverständnis auslöst. Warum gerade 20 Prozent? Die Kollegen spekulieren, dass es eigentlich 10 Prozent sein sollen, aber mehr gefordert werden muss, um es zu erreichen.
Und. Und. Und. Das Gefährliche daran ist, dass diese Fragen meistens nicht offen gestellt werden. Wer traut sich schon, sich vor die fahrende Lokomotive zu werfen, um als Verhinderer abgestempelt zu werden? Dafür geht in den nächsten Wochen im Flur das Radio Trottoir auf Sendung.
Die Reporting-Spiele sind eröffnet!
Sicherlich das Schauspiel bei „von Oben“ vorgegebenen Zielen: Spätestens in der zweiten Jahreshälfte werden die Reportings von Argumenten überlagert, warum die Ziele nicht mehr erreicht werden können. Die Mutigsten stellen vielleicht das ursprüngliche Ziel in Frage. Viel bequemer ist es allerdings, externe Faktoren verantwortlich zu machen. In grösseren Organisationen auch zu beobachten: Abhängigkeiten zu anderen Abteilungen und Projekten aufzubauen.
Zum Beispiel: „Die Kollegin xy hat dieses und jenes System nicht zur Verfügung gestellt.“ Die Geschäftsführung darf dann abwägen, wie sie damit umgehen soll. Insgesamt wird die Atmosphäre zäh und problemorientiert. Und die Teilnehmer verlassen am Ende genervt den Raum, ohne den eigenen Anteil zu reflektieren. These: Diese ganzen Spielchen könnten passé sein, wenn die Ziele nicht vorgegeben, sondern selbst entwickelt und verantwortet werden.
Es geht auch anders?
Jeder kann für sich selbst überprüfen, wann es ihm in der eigenen Berufslaufbahn gelungen ist, mit viel Schwung Ziele zu erreichen oder diese gar überzuerfüllen. Vermutlich in Situationen, an denen Ziele nicht fremd vorbestimmt wurden, sondern selbst entwickelt wurden. Und man zu 100 Prozent hinter dem Ziel stand? Man will es selbst!
Als Management-Weisheit füllt dieser Ansatz seit Jahren mehrere Bücher. Warum findet die Selbstbestimmung im Betriebsalltag dann noch keinen festen Platz? Vielmehr wird an etablierten Steuerungsinstrumenten festgehalten. Die gängigsten Gegenargumente: 1. Das erforderliche Hintergrundwissen ist nicht vorhanden! 2. Das kostet zu viel Zeit und Nerven. 3. Wir benötigen ein einheitliches Ziel für alle.
Bohrt man tiefer, stößt man hinter diesen Gegenargumenten auf Folgendes: Die Sorge, dass die Ziele zu wenig ambitioniert sind. Man es den Mitarbeitern nicht zutraut. Oder: Kontrollverlust und Sorge um die eigene Daseinsberechtigung. Das sind die üblichen Wegelagerer von Veränderungsprozessen. Aber ist das wirklich ein Grund, es nicht einmal auszuprobieren, was nach eigener Erfahrung funktioniert?
Energie freisetzen durch Umkehrung
Es geht sicherlich schneller, wenn die Führungskraft die Ziele einfach vorgibt. In der Folge wird dann allerdings bei allen Beteiligten viel Zeit gebunden, um Missverständnissen auf die Spur zu kommen und diese zu klären. Je grösser eine Organisation ist, desto mehr Zeit fließt in die Überprüfung der Zielerreichung.
Vereinfacht liegt die Management- Attention bei 10 Prozent auf der Zielentwicklung. Und 90 Prozent bei der Begleitung der Umsetzung und Kontrolle. Nach dem Motto: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Oder direkt formuliert: Misstrauen. Der Hebel ist, wesentlich mehr Zeit für die Ziel-Entwicklung einzuplanen. Was in der Folge garantiert wesentlich weniger Zeit zur Kontrolle beanspruchen wird. Es entsteht Zeit, die nicht mehr in Reporting-Schlachten gebunden, sondern in die Wertschöpfung gesteckt werden kann.
Die Führungskraft gewinnt in so einem Entwicklungs-Prozess eine neue Rolle: Es ist hilfreich, das Team bei der Ziel- Entwicklung wie ein Coach zu begleiten. In inhaltlichen oder strategischen Fragen. Annahmen zu hinterfragen, Impulse zu setzen und Perspektivwechsel zu ermöglichen. Zum Beispiel beim Thema Gewinn: Welche Möglichkeiten seht Ihr, ihn zu steigern? Geht es nur um Kostenreduktion oder welche Stellschrauben seht Ihr noch? Wo ist es uns in der Vergangenheit schon einmal gelungen?
Was können wir daraus für unsere Zielentwicklung lernen? Das ist eine neue Vorgehensweise und auch eine neue Aufgabe für alle. Da wird es auch Fehler und Ehrenrunden geben. Aber ist der Gegenwert das nicht wert? Stellen Sie sich vor, ihre Mitarbeiter stehen voll hinter dem Ziel und strahlen Zuversicht aus, es zu erreichen. Dann müssen Sie es nicht kontrollieren, sondern die Kollegen wollen beweisen, dass sie die Ziele erreichen!
Mit kleinen Schritten und Augenmaß
Wie so oft gilt es auch hier bei Veränderungsprozessen das Augenmaß zu halten. Was passt zu dem Unternehmen, zur Kultur und zu den handelnden Personen? Die Empfehlung ist daher, nicht alles anders zu machen, sondern mit ersten Lockerungen zu arbeiten. So kann man Mitarbeiter aufrufen, mitzugestalten oder überfordert sie nicht mit zu großen Anforderungen. Erfahrungsgemäß erreicht man darüber schon vieles vom oben beschriebenen Effekt.
Bei einer klassischen Unternehmensstruktur ist es auch weiterhin die natürliche Aufgabe des Eigentümers oder der Führungskräfte Orientierung zu geben, welche unternehmerischen Ziele im Fokus stehen. Sind es Quantitativen (Absatz, Umsatz, Gewinn, Marktanteile,…) oder Qualitativen (Zusammenarbeit, Innovation, Kultur,…). Einfache Stellschrauben sind hier, stärker die Motivation in den Mittelpunkt zu stellen. WARUM wollen wir das erreichen?
Vielleicht stecken hier neue Erkenntnisse für die Mitarbeiter drin? Vielleicht löst die Motivation Phantasie für unkonventionelle Lösungen aus? Und die Deutungshoheit wird nicht dem Flurfunk überlassen. Bei Zielen sollten entsprechende Bandbreiten zur Orientierung mitgegeben werden (zum Beispiel „Wir sehen bei der Gewinnverbesserung ein Potenzial von 10 bis 20 Prozent und sehen aber, dass der Beitrag dazu je nach Abteilung ganz unterschiedlich sein kann“).
In einem Unternehmen mit zehn verschiedenen Abteilungen kann es durchaus ganz unterschiedliche Ausprägungen des Ziels für die jeweilige Abteilung geben. Das geht alles verloren, wenn mit dem Rasenmäher gleichmäßig über alle gefahren wird. Und manchmal entsteht durch ambitionierte Kollegen auch eine Energie, sich gegenseitig aufzufordern („bei Euch geht doch noch was“…). Wenn sich die letzten Absätze wie eine etwas „verkehrte Welt“ lesen, dann ist es auf jeden Fall einen Versuch wert, das in ihrem Unternehmen, Betrieb oder Team mal auszuprobieren.
UDO MÖBES
ist selbstständiger Berater, Trainer und Business- Coach und betreibt seit 2015 mit seiner Frau Ulrike Peter das Seminarhaus „Saiger Lounge“ im Schwarzwald. Er begleitet Change-Prozesse in Unternehmen und coacht Geschäftsführer-Teams oder einzelne Führungskräfte. Für das Digital-Unternehmen Virtual Identity mit 180 Mitarbeitern in Freiburg, München und Wien war er zuvor 16 Jahre lang an der Spitze tätig, davor arbeitete er 11 Jahre für die Haufe Mediengruppe. Udo Möbes wird an dieser Stelle regelmäßig seine Erfahrungen mit Coaching- Themen an unsere Leser weitergeben.
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