Hach, es liest sich fast wie ein Anachronismus in diesen Zeiten. So sehr sind wir es ja gewohnt, uns einzuschränken und auf die eine oder andere Freiheit zu verzichten. Aber keine Sorge, in dieser Kolumne soll es nicht wieder um das C-Thema gehen, sondern vielmehr ums Geschäft!
Lust auf frischen Wind bei der Arbeit?
Wer sich nun wieder der Weiterentwicklung des eigenen Betriebs oder seines Teams zuwenden möchte, der sollte mal in das von Reed Hastings reinschnuppern: „Keine Regeln – Warum Netflix so erfolgreich ist“. Netflix war in den letzten ein bis zwei Jahren doch immer häufiger in unserem Wohnzimmer zu Gast und zählt für manche schon zur Familie. Die ganze Film-Branche wurde in den letzten Jahren von Netflix auf links gedreht. Was die wenigsten wissen: Auch bezüglich der Unternehmensführung und -kultur lohnt sich ein Blick hinter die Kulissen!
Der Autor, Gründer und CEO, gibt einen umfangreichen Einblick in das Firmenleben von Netflix. Die Zweifler werden sich jetzt fragen, was hat meine Versicherungsagentur, mein Callcenter oder meine Bürsten-Fabrikation damit zu tun? Vielleicht mehr als man glaubt? Es ist auch tröstlich zu lesen, dass die ganz Großen an den gleichen Themen knabbern. Aber vor allem sehr inspirierend, dass es dafür auch ganz einfache Lösungen geben kann. Beispiele gefällig?
Regelwerk und Talentdichte
So manches Unternehmen hat ein umfangreiches Regelwerk, wenn es um Dienstreisen und Reisekostenabrechung geht. Dennoch sorgt das regelmäßig für Verspannungen in Organisationen. Bei Regellücken wird das Regelwerk dann flugs um weiteres Kapitel erweitert und noch umfangreicher. Bei Netflix steht zu dem Thema ein einziger Satz: „Handeln Sie einfach im besten Interesse von Netflix“. Das funktioniert nicht? Offensichtlich schon!
Der Autor macht eine Gleichung auf zwischen Umfang des Regelwerkes und der Qualität der Mitarbeiter. Die These: je „qualifizierter“ die Mitarbeiter sind, desto weniger Regelwerk ist erforderlich. Im Umkehrschluss muss man sich bei den umfassenden Regelwerken schon fragen, welches Bild man von den Mitarbeitern hat. Die Vorteile beim Netflix-Modell liegen auf der Hand: Mehr Freiraum, mehr Urteilsvermögen wird gefordert, keine Freigabenprozesse und Kontrollmechanismen nur noch in größeren Abständen. Und die Datenbasis zeigt, dass es seit Einführung dieses einfachen Prinzips keine Kostenexplosionen gegeben hat.
Vergleichbares gibt es zur Urlaubsplanung und Anzahl der Urlaubstage. Kann man sich vielleicht nicht vorstellen, aber ist möglich, Zwinkersmiley.
Dem Chef nicht nach dem Mund reden?
Der Netflix-CEO berichtet von Situationen, bei denen Produktionen umgesetzt wurden, die der Chef nicht haben wollte. Und diese waren in den meisten Fällen dann erfolgreich.
Vermutlich ist dieser Punkt bei uns kulturell noch ganz anders besetzt. Konformität, Gehorsam und Höflichkeit. Widerspruch ist erst einmal bei uns negativ besetzt. Niemand möchte gern die Kuh sein, die immer quer im Stall steht.
Aber ist es nicht ein offenes Geheimnis, dass genau so viel Innovation und Verbesserung stecken bleibt? Auf jeden Fall entsteht viel Frust, wenn man etwas Unsinniges so weiter machen muss, nur weil der Chef es so möchte. Ein Steilpass für eine Innere Kündigung – das ist nur eine Frage der Zeit!
Vielleicht ist für manche Chefs „Recht haben“ und „Recht behalten“ immer noch die Währung, an der sie ihren Status festmachen. Aber ist das wirklich noch zeitgemäß? Vor allem, wenn diese Chefs sich dann gerne auch wünschen, dass sie engagiertere Mitarbeiten hätten. Aber wie sollen die Kollegen denn große Sprünge machen, wenn man ihnen ständig auf die Füße steht?
Das Thema kann man nur substanziell ändern, wenn die Bereitschaft auf beiden Seiten vorhanden ist und man langen Atem hat!
Sind wir wirklich eine Familie?
So manchem Chef geht es leicht über die Lippen, dass sein Betrieb eigentlich so etwas wie eine große Familie ist. Das sagt sich so leicht daher, aber ist es ihm wirklich ernst damit? Eine Familie zeichnet sich dadurch aus, dass man automatisch ein Teil davon ist, ohne dass man etwas gemacht hat oder etwas macht. Dass die Schwächeren mitgezogen werden und das Leistungsprinzip nicht im Vordergrund steht. In sozialeren Unternehmen wird das auch so gelebt und es ist auch das Prinzip einer Solidargemeinschaft. Aber man muss kein Betriebswirt sein, um zu erahnen, dass die Rechnung nicht mehr aufgeht, wenn der Anteil der Mitgezogenen deutlich höher ist als der der Leistungsträger.
Bei Netflix gibt es die Routine, dass sich jeder zum Jahresende in Frage stellt. Die knallharte Prüffrage ist, ob man alles dafür tun würde, den Mitarbeiter zu halten. Das geht hoch bis zum CEO. Trennungen werden dann mit großzügigen Abfindungen begleitet. Das ist dann der typisch amerikanische Teil, der für uns weder gesetzlich möglich noch vielleicht kulturell erstrebenswert ist. Aber im Kern steckt darin eine Wahrheit, die bei uns gerne vertuscht oder ein offenes Geheimnis ist.
Ein Team definiert sich über den Beitrag, den jeder zum Gelingen des Großen Ganzen beisteuert. Da steckt auch eine Verpflichtung drin, sich einzubringen und seine Leistung abzurufen. Wenn wir am Samstag beim SC Freiburg im Stadion sind, ist das für uns auch selbstverständlich und wir fordern das mit dem Bierbecher in der Hand vielleicht lautstark ein. Aber am Montag wollen wir uns selbst das eigene Teamtrikot nicht anziehen – es spannt!
Die Firmenlenker sind gut beraten, sich hier im Klaren zu sein, welche Organisationsformen und Werte angestrebt werden und die Handlungen sollten ins Bild passen.
Ein Ladung Inspiration
Die drei vorangegangenen Aspekte sind nur eine Auswahl. Die Lektüre des Buches ist leichtgängig und eignet sich auch gut als Hörbuch. Es ist auch erfrischend, dass der Autor selbst einräumt, jeder müsse selbst überprüfen, ob das zu seinem Unternehmen passt oder nicht. Das ist bei amerikanischen Management-Büchern eher selten.
Für Unternehmen und Betriebe, bei denen Kreativität eine Rolle spielt, ist das wirklich ein Fundus an Inspiration. Natürlich gilt es zu überprüfen, was davon in Deutschland gesetzlich und kulturell möglich und erwünscht ist.
Lesetipp: Reed Hastings und Erin Meyer, Keine Regeln – Warum Netflix so erfolgreich ist, Econ
Udo Möbes, selbstständiger Berater, Trainer und Business-Coach, betreibt seit 2015 mit seiner Frau Ulrike Peter das Seminarhaus „Saiger Lounge“ im Schwarzwald. Er begleitet Change-Prozesse in Unternehmen und coacht Geschäftsführer-Teams oder einzelne Führungskräfte. Für das Digital-Unternehmen Virtual Identity mit 180 Mitarbeitern in Freiburg, München und Wien war er zuvor 16 Jahre lang an der Spitze tätig, davor arbeitete er 11 Jahre für die Haufe Mediengruppe.