Das Literaturhaus in Freiburg ist ein Hort für Kultur, Lese- und Schreibförderung. Mit einem neuen Format zum Thema Herkunft veranstaltet es demnächst Lesungen in verschiedenen Stadtteilen an Orten des Alltags. Über Wege, wie Menschen und Bücher zusammenkommen.
VON CHRISTINE WEIS
Martin Bruch nimmt sich gerne Zeit für ein Gespräch, gleichwohl diese für ihn knapp sein mag, denn er ist auf dem Sprung zur Frankfurter Buchmesse. Während der Leiter des Literaturhauses begeistert von den vielen Formaten, Projekten und Vorhaben berichtet, bildet sich ein verwundertes Fragezeichen beim Gegenüber, wie sein Team (2,7 Stellen) die rund 120 Veranstaltungen im Jahr stemmt. „Wir erscheinen größer als wir sind“, sagt Bruch und weist auf das Problem knapper personeller und wirtschaftlicher Ressourcen hin. Ein so umfangreiches Programm wäre ohne ehrenamtliche Mitstreiter und Fördergelder nicht möglich.
Raum für Vieles
Im Oktober 2017 öffnete das Literaturhaus im Innenhof der Alten Universität an der Bertoldstraße erstmals seine Türen. Die Gründungsphase begann bereits viele Jahre davor unter Federführung von Stefanie Stegmann, damals gab es noch kein „Haus“, sondern lediglich ein „Büro“ im Alten Wiehrebahnhof.
Martin Bruch übernahm 2014 die Leitung. Der langwierige Prozess bis Ort und Finanzierung des Hauses realisiert waren, ist für Bruch eine Geschichte des Engagements von Vielen. Dabei benennt er einige Akteure wie den Trägerverein Literatur Forum Südwest, Kulturamt, Gemeinderat, Universität oder den Förderkreis. Zum fünfjährigen Bestehen zieht er heute eine positive Bilanz: „Wir haben uns als Institution etabliert und sind fest in der Stadtmitte verankert.“
Das Programm besteht aus weit mehr als klassischen Lesungen. Es gibt Angebote für Grundschulkinder aus Partnerschulen zur Leseförderung. Jugendliche texten in der Schreibwerkstatt. Kreative nutzen die hauseigene japanische Schnelldruckmaschine. Übersetzer treffen sich hier zur gemeinschaftlichen Auflösung von Wortfindungsstörungen. Lesehungrige diskutieren im Buchclub oder bei einer Suppe an der Langen Tafel. Zudem finden jährlich mit Liraum Larum ein Lesefest für Kinder, das mehrtägige Freiburger Literaturgespräch und Ausstellungen statt.
„Wir haben uns als Institution etabliert und sind fest in der Stadtmitte verankert. Gerade sind wir auf Orts- und Partnersuche für unsere Auswärtsspiele.”
Martin Bruch, LEiter Literaturhaus Freiburg
Nach dem Kriegsausbruch in der Ukraine wurde kurzerhand ein Begegnungscafé für neu angekommene Menschen aus der Ukraine eingerichtet. Literaturhaus-Mitarbeiterin Hanna Hovtvian, sie stammt selbst aus der Ukraine, lud unter dem Titel „Kawacaj“ (Ukrainisch für Tee und Kaffee) zu ukrainisch-deutschen Treffen ein, bei denen konkrete Hilfe für die Geflüchteten geleistet werden konnte. Daran anknüpfend wird es nächstes Frühjahr mit „Kawacaj mit Schere und Papier“ ein kreatives Angebot für deutsch- und ukrainischsprachige Kinder und Familien geben.
Orte der Vielfalt
Wer den Weg noch nicht ins Literaturhaus gefunden hat, wird vielleicht von selbigem demnächst heimgesucht – das könnte im Jugendzentrum, Vereinsheim, Quartierstreff, Secondhandladen, auf dem Sportplatz, im Einkaufs-, Garten- und Jobcenter oder in der Schule sein. „Wir sind gerade auf Orts- und Partnersuche für unsere Auswärtsspiele“, berichtet Martin Bruch. Ziel sei es, Menschen unterschiedlicher Herkunft (gesellschaftlich, familiär, kulturell, sprachlich) ins Gespräch zu bringen. Anlass zum Austausch werden Bücher und ihre Autoren sein, die aus unterschiedlicher Perspektive von sozialen Klassen, Aufstiegskämpfen, Gleichberechtigung, Migration oder Identität erzählen.
Starke Geschichten über feine Unterschiede
Los geht die Reihe Herkunft an den ersten beiden Dezembertagen im Literaturhaus. Daniela Dröscher („Lügen über meine Mutter“), Martin Kordićs („Jahre mit Martha“) und Christian Baron („Schön ist die Nacht“) sind die Starter. Alle drei erzählen in den Romanen auch aus ihrem eigenen Leben.
Dröscher schreibt über ihre Kindheit in den 80er Jahren in einem Dorf im hessischen Hunsrück. Ihr Vater glaubt, das Übergewicht seiner Frau verhindere seine berufliche Karriere. Er vermeidet öffentliche Auftritte mit ihr, übt psychischen Druck aus, indem er sie zu Diäten zwingt. Dicksein passt nicht in sein Idealbild und auch nicht zu jenen „besseren“ Kreisen, denen er angehören möchte.
In „Jahre mit Martha“ erzählt Martin Kordic die Geschichte von Željko, dessen Eltern aus dem Balkan eingewandert sind. Mit 15 verliebt er sich in eine zwanzig Jahre ältere Professorin, bei der seine Mutter putzt und er den Garten gießt. Sie hat das, was er sich wünscht: Vermögen, Bücher und Bildung. Er schafft den Aufstieg: Gymnasium, Studium, akademische Kreise und Schickeria in München – doch auch dieses Leben hat seinen Preis.
Christian Baron schließlich führt mit „Schön ist die Nacht“ in die 70er Jahre nach Kaiserslautern. Die Protagonisten Willy und Horst kämpfen als Arbeiter um ihren Anteil am Wohlstand und geraten dabei in eine Abstiegsspirale. Die Männer sind Barons Großväter. Er selbst kommt ebenfalls aus Kaiserslautern. Sein Vater war Möbelpacker und Alkoholiker. Die Mutter früh verstorben, litt an Depressionen. Seine Kindheitserlebnisse schildert er in seinem vielbeachteten Debüt „Ein Mann seiner Klasse“.
Wenn man auf die Buchneuheiten der letzten Jahre blickt, sticht das Thema Herkunft in all seinen Facetten ins Auge. Und mit der Französin Annie Ernaux (Jahrgang 1940) hat eine Autorin den diesjährigen Nobelpreis für Literatur erhalten, die mit den Fragen nach Zugehörigkeit und gesellschaftlicher Spaltung auseinandersetzt.
Martin Bruch bemerkt, dass gerade seitdem Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ 2016 auf Deutsch herauskam, vermehrt über die „feinen Unterschiede“ diskutiert werde. Das autobiografische Buch des Schriftstellers und Soziologen Eribon (Jahrgang 1953) hat Wellen geschlagen. Darin macht er deutlich, dass sowohl sein Bildungsabstand wie auch seine Homosexualität ihn von seiner Herkunftswelt ausgeschlossen hätten. Ernaux und Eribon gelten als Pioniere einer neuen Art von Literatur mit Klassenbewusstsein, die viele Autoren auch hierzulande inspirieren. Man darf also gespannt sein, wen der Literaturhaus-Team für das neue Format Herkunft nach Freiburg einlädt. Sicherlich wird er auf der Buchmesse einige von ihnen aufspüren.
Termine, Tickets und Details zu den Veranstaltungen gibt`s unter www.literaturhaus-freiburg.de.