Das Offenburger Salmengespräch führten diesmal die Autorin Lena Gorelik und die Literaturkritikerin Insa Wilke. Bildung stand auf dem Programm – allerdings nicht im Sinne von Wissensvermittlung, sondern von Menschlichkeit.
Text: Christine Weis | Fotos: Markus Dietze
Am 12. September 1847 verkündeten die Revolutionäre Gustav Struve und Friedrich Hecker im Salmen ihre „13 Forderungen des Volkes in Baden“. Sie sind der erste Grundrechtekatalog in der deutschen Geschichte. Zum Gedenken an diesen bedeutenden Tag lädt die Stadt Offenburg alljährlich zum Salmengespräch ein. Dieses Mal stand die neunte Forderung „Wir verlangen, dass die Bildung durch Unterricht allen gleich zugänglich werde“ im Fokus. Oberbürgermeister Marco Steffens schaute für seiner Eröffnungsrede ins Grundgesetz, um nachzusehen, wo das Recht auf Bildung verankert ist, und fand lediglich im Artikel 7 einen verwaltungstechnischen Hinweis zum Schulwesen. „Da waren die Verfassungsfreunde vor 177 Jahren schon weiter“, bemerkte er. Und wie sieht es heute aus? Gleiche Bildung für alle ist noch immer keine Realität. Besonders Kinder mit Migrationshintergrund und Menschen aus sogenannten „bildungsfernen Schichten“ sind im deutschen Bildungssystem benachteiligt.
Dieses Problem kennt der Gast des Abends, Lena Gorelik, aus eigener Erfahrung. Sie wurde 1981 im damaligen Leningrad (heute Sankt Petersburg) geboren. In der unruhigen Zeit der Auflösung der Sowjetunion erstarkte der Antisemitismus, so dass die Elfjährige mit ihrer russisch-jüdischen Familie nach Deutschland flüchtete. Die ersten eineinhalb Jahre lebte die fünfköpfige Familie in einem Zimmer eines, wie es damals hieß, Asylantenwohnheims in Ludwigsburg. Ihre Eltern waren beide Ingenieure, ihre Abschlüsse wurden in Deutschland nicht anerkannt. Der Vater arbeitete in Fabriken, die Mutter im Putzdienst. Die Tochter machte ihren Weg. Lena Gorelik studierte an der Journalistenschule in München. Sie schreibt heute regelmäßig für die „Süddeutsche Zeitung“ oder „Die Zeit“, hat mehrere Bücher veröffentlicht und zahlreiche Auszeichnungen erhalten, darunter den Literaturpreis „Text & Sprache“ des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft im Bundesverband der deutschen Industrie.
An diesem Abend las Gorelik zwei Passagen aus ihrem autobiografischen Roman „Wer wir sind“. In dem Buch geht es um die Fluchtgeschichte der Familie, um die schmerzhaften Erfahrungen der Entwurzelung, um das Gefühl des Andersseins in einer fremden Welt. Die Autorin begann mit dem ersten Kapitel, das von ihrer Muttersprache handelt und die ihr gelehrt habe, sich nicht in den Mittelpunkt zu stellen. Der Buchstabe Я bedeutet „ich“, es ist der letzte im russischen Alphabet und trieb den Kindern den Egoismus aus. Im Unterschied zur westlich-kapitalistischen Gesellschaft, die das Ich voranstelle, den Individualismus fördere, der ja wirtschaftlich gewollt sei. Sie wünsche sich hingegen mehr Empathie, die auch in der Schule vermittelt werden sollte. Der Unterricht sei oft zu stark auf reine Wissensvermittlung ausgerichtet, zu wenig auf die Herzensbildung. Kinder sollten beispielsweise lernen, anderen zu helfen.
Gorelik erzählte über ihre Anfangszeit in der deutschen Schule, in der sie auf sich allein gestellt war, die Sprache nicht verstand und dann eine Klasse wiederholen musste. Der neue Klassenlehrer war einfühlsam und fragte sie, was sie am liebsten macht und sie antwortete: Lesen und Geschichten schreiben. „Ich hatte in dieser Klasse dann meinen ersten Schreibclub und meine ersten Freunde. Das Mädchen aus dem Asylantenwohnheim wurde zur Frau, die Bücher schreibt.“ Ohne diesen Lehrer und ohne Anita säße sie heute nicht hier. Anita war eine Bäuerin, die die Kinder aus dem Heim abholte und mit auf ihren Hof nahm. Sie fand, dass es nicht gut sei, wenn die Kinder nur auf Stacheldraht blickten. „Sie hat mir Schwäbisch und Uno mit allen Sonderspielregeln beigebracht“, schilderte Gorelik. Dabei hätte sie kein pädagogisches Konzept oder politisches Anliegen gehabt, sondern ein gutes Herz.
An diesem Abend fand keine Diskussion über Chancengleichheit oder Bildungsgerechtigkeit statt. „Vielleicht haben wir eine ganz andere Richtung eingeschlagen, als Sie es sich vorgestellt haben“, sagte Insa Wilke am Ende des Gesprächs. Doch aus dem Lebens- und Bildungsweg von Lena Gorelik, von ihren Erzählungen und von ihrem Buch lässt sich einiges lernen.
„Wer wir sind“ ist 2021 erschienen.
Das Buch gibt es in der gebundenen Ausgabe
(22 Euro) oder als Taschenbuch (14 Euro) im Buchhandel.