Das Museum Mausa im elsässischen Neuf-Brisach bringt Street Art dorthin, wo man sie nicht erwartet – ins Innere einer alten Stadtmauer. Statt auf Wänden im öffentlichen Raum gibt es Graffiti im dunklen Gewölbe. Das Konzept setzt sich nun in weiteren Museen in Frankreich fort.
Text und Fotos: Christine Weis
Über eine schmale, ruckelige Straße führt der Weg durch eines der vier Tore in die historische Festung Neuf-Brisach. Die von einer dicken Mauer umschlossene und von drei Wallanlagen umgebene Stadt wirkt aus der Zeit gefallen – streng symmetrisch, abgeriegelt, ein Relikt militärischer Architektur. Von oben betrachtet gleicht sie einem sechzehnzackigen Stern, dessen Inneres aus 48 Häuserblöcken besteht. Entworfen wurde die Festung von Sébastien Le Prestre de Vauban (1633–1707), dem wohl bedeutendsten Militärbaumeister Frankreichs, der sie im Auftrag des Sonnenkönigs Ludwig XIV. zur uneinnehmbaren Bastion machte. Seit 2008 ist Neuf-Brisach UNESCO-Weltkulturerbe.
Rund um den ehemaligen Appellplatz in der Stadtmitte gibt es Parkbuchten, von da ist es nicht weit zum Museum Mausa. An diesem Dienstagnachmittag Ende Februar ist der Platz wie leergefegt. Nur ein Mann nutzt eine der Bänke für ein Sonnenbad, sonst ist kaum jemand unterwegs. Doch in Richtung Museum ändert sich das Bild plötzlich – Familien und Paare laufen zielstrebig die Straße entlang, als würden sie von einem Magneten angezogen. Zwischen zwei langgestreckten Gebäuden sieht man von weitem eine überdimensionale Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger an einer Fassade. Beim Näherkommen entdeckt man den roten Knopf, dem sich der Finger nähert. Okay, hier beginnt die Schau, könnte man meinen. Der riesige Wegweiser von Charles Uzzel Edwards, dem walisischen Grafitti-Künstler, besser bekannt als Pure Evil, ist nicht zu übersehen. Und sobald man in den Hinterhof einbiegt, glotzt einen eine große schwarze Katze von der Hauswand an.

Der Eingang zum Mausa dagegen ist eher unscheinbar, gegenüber der Katze in einer Ecke der Festungsmauer. Eine Eisentür führt ins Innere der dicken Mauern. Es ist kühl, der Geruch von feuchtem Stein und Erde liegt in der Luft. Gewölbegänge verlaufen in verschiedene Richtungen, rechts befindet sich der Zugang zur Kasse und zum Shop. Doch gleich beim Reinkommen fällt der Blick auf ein eindrucksvolles Wandbild: ein doppelt gezeichnetes Gesicht eines Mädchens mit großen, durchdringenden Augen. Das Werk stammt von Eddie Colla, einem US-amerikanischen Street-Art-Künstler, der sich in seinen Arbeiten kritisch mit der Kommerzialisierung des öffentlichen Raums auseinandersetzt. Seine Graffiti sind sonst in Los Angeles, San Francisco oder Miami zu finden – hier in Neuf-Brisach hat er die Mauerstruktur gekonnt ins Bild eingearbeitet.

Graffiti, Geschichte und Interaktion
Das Musée d’Art Urbain et de Street Art, kurz Mausa, wurde 2018 eröffnet. Initiator und Gründer ist der französische Kunstsammler Stanislas Belhomme. Auf einer Fläche von 1500 Quadratmetern, verteilt auf 16 Gewölbe, haben bisher rund 40 Künstlerinnen und Künstler die Innenwände der Festungsanlage gestaltet. Die Werke entstehen während ihrer Residenzen, die Besucherinnen und Besucher können live miterleben, wie die Werke nach und nach Gestalt annehmen. Zudem werden Workshops für alle Altersgruppen angeboten, die das Verständnis und die Begeisterung für Street Art fördern sollen, erklärt Mathilde Fernbach, die für die Öffentlichkeitsarbeit des Museums zuständig ist. Für dieses Jahr sei noch keine neue Residenz bestätigt. Derzeit läuft noch die temporäre Ausstellung anlässlich des 35. Jahrestages des Falls der Berliner Mauer. Akte One (Mark Marquardt), Cren (Michel Pietsch) und der Fotograf Jan K. Tyrel setzen sich dabei mit dem historischen Ereignis auseinander. Es kann jeder selbst zur Spraydose greifen und auf einem Stück nachempfundener Berliner Mauer seine Signatur hinterlassen. Ein Trabi als Symbol der Freiheit wirkt, als wäre er unversehrt durch die Mauer gefahren.


Zu den eindrucksvollsten Werken im Mausa gehören die Arbeiten von Guy Denning, der bereits mehrfach hier war. Der britische Künstler lebt seit einigen Jahren in der Bretagne. Seine Serie „Everything burns the heart“ zeigt monumentale, ausdrucksstarke Menschen, die sich an die Mauern schmiegen. Besonders eindringlich ist das Porträt einer nackten Frau ohne Haare, mit zurückgelegtem Kopf und geschlossenen Lidern. Schmerz oder Hingabe? Das bleibt der Interpretation überlassen. Auch die anderen Figuren seiner Serie haben die Augen zu – als wollten sie sich von der Welt abwenden.
In einem engen langen Gewölbegang hat der brasilianische Street-Art-Künstler Alex Senna einen kleinen Jungen mit nacktem Oberkörper und kurzer Hose an die Wand gezeichnet. Er wirkt traurig, hilflos. Sein Schatten wird entlang der Wand immer größer, und sieht aus wie ein Tier, dass sich an dem Jungen festgebissen hat.
Ein weiteres Highlight ist der von Seth bemalte Raum. Ein Kleinkind auf Knien, das mit einem Hammer die Wand zerstört, füllt eine komplette Seitenwand. Das eingeschlagene Loch ist real, die bunt angemalten Backsteine liegen verstreut auf dem Boden, eine Mischung aus Spielzeug und Baumaterial. Seth alias Julien Malland ist bekannt für seine Kinderdarstellungen. Er kommt aus der Pariser Graffitiszene und zählt zu den bekanntesten französischen Street-Art-Künstlern.

Mehrere Arbeiten erinnern auch an die Geschichte der Festungsmauer von Neuf-Brisach. Während des Zweiten Weltkriegs wurde die Anlage als Lazarett genutzt. Und die Bevölkerung suchte in den unterirdischen Gängen Schutz vor den Bombenangriffen. So wie 1945 eine Pfadfindergruppe, deren Zeichnungen, Schriften und Schablonen erhalten geblieben sind und an diese Zeit erinnern. Auch das Konterfei von Vauban hat einen Platz gefunden. Der Franzose Christian Guémy, der sich C215 nennt, hat den Baumeister mit prächtiger Barocklocke verewigt.

Einzig die Frauen sind wie generell in der Kunstwelt unterrepräsentiert. Smoluk ist eine der wenigen. Ihren überdimensionierten aus Restkartonagen hergestellten Turnschuhen begegnet man an mehreren Stellen im Museum. Mit dieser Art der Wiederverwertung wendet sich die Kanadierin gegen Massenkonsum und plädiert für mehr Recycling. Mit Elle war 2019 eine Künstlerin in der Residenz, die es von der New Yorker Underground-Graffitiszene zur international gefragten Straßenkünstlerin geschafft hat. Ihre Arbeit „Did I just die“ ist eine wilde, bunte Collage aus Totenkopf, Blumen, Händen und einzelnen Gesichtspartien umschlossen von einer neongrüngelben Corona.
Wir haben keinen Banksy, aber wir wurden 2024 zum besten Museum im Department Haut-Rhine gewählt.
Auch wenn man es gewohnt ist, dass Street Art draußen frei zugänglich ist, dem Mausa ist es gelungen, die Wandkunst ins Innere zu holen, ohne dass sie ihre Wirkung verliert. Die Stadt Neuf-Brisach gewinnt auf jeden Fall, sie profitiert von dem attraktiven Museum, das viel junges Publikum anzieht.
„Wir haben keinen Banksy, aber wir wurden 2024 zum besten Museum im Department Haut-Rhine gewählt“, heißt es in einem Insta-Reel. Banksy ist der Street-Art-Star und schon nahezu so berühmt wie van Gogh oder Picasso. Einen echten Banksy zu sehen, ist aber eher schwierig. Die heimlich verzierten Hauswände des großen Unbekannten sind in London, Bristol, Berlin, Glasgow oder Bethlehem. Derzeit läuft mit „The Mystery of Banksy“ eine Schau mit Nachbildungen auf der Freiburger Messe, allerdings nicht vom Künstler autorisiert. Dann schon lieber Originale, im Mausa gibt es jede Menge davon zu entdecken.

Das Konzept Street Art in historischen Gemäuern hat sich bewährt – so sehr, dass weitere Ableger entstehen. Seit Juli 2023 gibt es im lothringischen Bitche ein Mausa in einem ehemaligen Militärgebäude unterhalb der Zitadelle, die ebenfalls auf Vauban zurückgeht. Und im Mai eröffnet das Mausa H07 in Saint-Chamond in der Region Auvergne-Rhône-Alpes. Die neue Dependance entsteht in einer imposanten 8000 Quadratmeter großen Halle aus dem Jahr 1899 und verbindet erneut historisches Kulturerbe mit zeitgenössischer urbaner Kunst.
Mausa Vauban, Place de la Porte de Belfort, 68600 Neuf-Brisach und Mausa on the Bitche, Quartier Teyssier, 57230 Bitche – jeweils geöffnet von Dienstag bis Sonntag 11–19 Uhr. www.mausa.fr