Am 9. Juni können die Wahlberechtigten der 1101 Gemeinden und Städten in Baden-Württemberg ihre Stimme für die Ortschafts- und Gemeinderäte abgeben und ein Kreuz bei einer Parteiliste zur Abgeordnetenwahl des EU-Parlament setzen. Ein Gespräch mit dem Politikwissenschaftler Michael Wehner über politisches Engagement und wahlkampfbestimmende Inhalte.
Interview: Christine Weis • Foto: Alex Dietrich
Herr Wehner, welche Themen dominieren die Europawahlen?
Michael Wehner: Ein zentrales Thema ist der Rechtspopulismus und die damit einhergehende Gefährdung der Demokratie in vielen europäischen Ländern. Das Erstarken der populistischen Kräfte in Österreich, Frankreich, Polen und auch Deutschland ist besorgniserregend. Im Fokus stehen zudem Migration, Klimaschutz und der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine. Darüber hinaus sind auch Themen wie die Agrar- oder Verkehrspolitik relevant.
Wichtige Aufgaben und dennoch ist mit einer geringen Wahlbeteiligung zu rechnen. Warum ist das Interesse für EU-Wahlen so gering?
Wehner: Nach wie vor denken viele Menschen, dass allein die nationale Gesetzgebung über ihre Lebensqualität entscheidet, und betrachten die Europawahl lediglich als Nebenwahl. In der Forschung sprechen wir von Second Order Election. Diese Einschätzung ist aber insofern falsch, als dass die nationalstaatliche Gesetzgebung von der europäischen Ebene beeinflusst wird. Und das erkennen die Bürgerinnen und Bürger auch zunehmend, was sich in den steigenden Zahlen der Wahlbeteiligung zeigt. Vor zehn Jahren lag sie bei 42,6 Prozent, bei der vergangenen Wahl 2019 waren es 61,4 Prozent.
Und doch bleibt sie unter den Werten von Bundes- und Landtagswahlen. Liegt die geringe Wahlbeteiligung auch an mangelnder Transparenz? Viele Menschen verstehen nicht, wie Entscheidungen in Brüssel getroffen werden.
Wehner: Ja, das sehe ich ähnlich. Deshalb brauchen wir mehr politische Bildung. Selbst den großen Volksparteien ist die Europawahl nicht so wichtig, denn sie stecken viel mehr Geld in die nationalen Wahlen. Das geringe Interesse liegt auch daran, dass das europäische Parlament keinen vollen Rechtestatus hat.
Was dann?
Wehner: Hauptakteur in Sachen Gesetzgebung auf EU-Ebene ist die Kommission, das Parlament selbst kann leider keine eigenen Entwürfe einbringen. Und über den Europäischen Rat versuchen nationale Regierungen die EU-Politik zu gestalten. Als Wähler kann man den Eindruck gewinnen, dass die eigene Stimme nur wenig Gewicht hat. Hinzu kommt, dass es bei der Wahl zum Europäischen Parlament keine Stimmengleichheit gibt. Dass also kleine Mitgliedsländer wie etwa Malta pro Einwohner mehr Abgeordnete erhalten als bevölkerungsstarke Länder wie Deutschland. Damit zählt also nicht jede Stimme aus den 27 Mitgliedsstaaten gleich viel. Das ist ein Demokratiedefizit, das man ändern sollte.
Kein Wunder denken manche: Wählen bringt ja eh nichts und gehen nicht hin …
Wehner: Das auf keinen Fall! Wählen ist unsere demokratische Pflicht, und Europa ist wichtig. Sicher ist es schwierig, die verschiedenen Länder, Kulturen und 200 Parteien zu vereinen. Aber gerade im Hinblick auf die Verteidigungsfähigkeit muss Europa als politische Einheit auftreten. Und die EU beeinflusst wie gesagt auch unseren Alltag vom Reisen ohne Passkontrolle über das Lieferkettengesetz bis zum Klimaabkommen.
So weit entfernt Brüssel für viele ist, so unmittelbar sind die Entscheidungen im örtlichen Rathaus. Doch auch die Kommunalwahl spielt im Vergleich zu Bundestagswahl nur die zweite Geige. Woran liegt das?
Wehner: Das ist ein Paradox. Weil etwa Bafög, 49-Euro-Ticket, Wohngeld, Kindergrundsicherung, Wachstumschancengesetz oder die Straßenverkehrsordnung vom Bundestag beschlossen werden, denken viele, es reicht, zur Bundestagswahl zu gehen. Aber wichtige Bereiche wie Sport- und Vereinsförderung, Ausstattung von Schulen, Kitas und Spielplätzen, die Friedhofssatzung oder der Bau von Wohn- und Gewerbefläche liegen in kommunaler Verantwortung.
Aus den Rathäusern hört man allerdings Klagelieder: Die gesetzlichen Vorgaben des Bundes sind oft nicht umsetzbar, wie die Wärmeplanung oder der Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz.
Wehner: Das Klagelied ist in diesen beiden Fällen berechtigt. Oft sind die Verschränkungen von nationaler und kommunaler Ebene komplex und schwierig. Und leider wird auf die Stimmen aus den Gemeinden und Landkreisen auf Bundesebene zu wenig geachtet. Für alle Ebenen gilt auch: Wir brauchen mehr politische Bildung und mehr politisches Engagement in den Gemeinden. Viele Parteien sind auf der Suche nach Mitgliedern. Gerade vor Ort kann man direkt Einfluss nehmen und Veränderungen bewirken.
Sind die Demonstrationen gegen Rechtsextremismus oder für mehr Klimaschutz ein Zeichen für eine politische Mobilisierung der Gesellschaft?
Wehner: Das politische Interesse nimmt zu, gerade im Vergleich zur Politikverdrossenheit in den 2000er-Jahren. Wir merken das auch bei unseren Veranstaltungen und den vielen Nachfragen aus Schulen, denen wir leider aufgrund unserer personellen Ressourcen gar nicht gerecht werden können. Die von Ihnen angesprochenen Demonstrationen vermitteln das Gefühl von Wirksamkeit, das ist positiv. Und ich begrüße es besonders, dass Menschen auf die Straße gehen, um gegen die Gefährdung der Demokratie durch rechtsextreme Strömungen zu protestieren. Jedoch sind Demos und Proteste kein dauerhaftes Mittel, um Politik zu verändern. Mein dringender Appell ist daher: Leute engagiert euch in Parteien, sie sind die zentralen Schlüsselinstitutionen, Dinge zu verändern und Gesetze auf den Weg bringen.
Die Auseinandersetzungen in der Ampel-Regierung sind jedoch keine gute Werbung für parteipolitisches Engagements, oder?
Wehner: Konflikte und Widerstände gehören zum politischen Alltag. Krisenszenarien werden häufig medial überdramatisiert. Wir sollten den Blick auch mal aufs Positive lenken. Unser Grundgesetz besteht seit 75 Jahren, wir leben in keiner Diktatur, Wahlen finden ohne Blutvergießen statt, die Institutionen funktionieren und Parteien agieren konsensorientiert. Demokratie steht und fällt mit den Bürgerinnen und Bürgern. Die Staatsform wird von jedem einzelnen getragen. Das wurde in den Jahren unter der Regierung von Kanzlerin Angela Merkel falsch vermittelt. Das Signal, der Staat kümmert sich, war falsch.
Aus der Wirtschaft gibt es Beschwerden, dass der Staat sich zu wenig kümmert.
Wehner: Es ist berechtigt, Kritik zu üben und die eigenen Interessen zu vertreten. Allerdings wird es wohl keine größere Kurskorrektur geben, schlicht, weil die Regierung sich an den Koalitionsvertrag halten wird. Der öffentlich ausgetragene Schlagabtausch in der Koalition ist medienwirksam, aber wenig konstruktiv.
Meinen Sie, dass sich die Wirtschaftslage auf die kommenden Wahlen auswirkt?
Wehner: Grundsätzlich können wirtschaftspolitische Faktoren das Wahlverhalten beeinflussen, allerdings nur dann, wenn es zu dramatischen Entwicklungen wie einer hohen Arbeitslosigkeit kommt. Trotz Energiekrise und Ukrainekrieg befindet sich die Wirtschaft derzeit in einer relativ stabilen Lage.