Derzeit ringen viele Konzepte um die Deutungshoheit bei ÖPNV und Individualverkehr, sie haben Befürworter und Kritiker.
VON KATHRIN ERMERT
Wie kommen die Menschen zur richtigen, gewünschten Zeit in die Innenstadt? Wenn weder Busse und Bahnen noch Straßen und Parkplätze voll sind? Mit welchen Anreizen können Innenstadtakteure – Händler, Gastronomen, Kulturbetriebe – sie zum Innenstadtbesuch motivieren? Lassen sich zugleich mehr Menschen in die Innenstadt locken und die Verkehrssituation entspannen? All diesen Fragen geht derzeit eine vom Bundeswirtschaftsministerium geförderte Studie nach, an der die auf Mobiltätssoftware spezialisierte Freiburger HighQ GmbH als Konsortialpartner beteiligt ist.
Erfurt Vorbild für Freiburg und andere Städte
Erfurt wurde ausgewählt, weil die thüringische Landeshauptstadt mit ihren rund 214.000 Einwohnern der europäischen Durchschnittsstadt entspricht. 80 Prozent aller Großstädte in Europa haben zwischen 100.000 und 300.000 Einwohner. „Was in Erfurt funktioniert, muss thematisch in alle Regionen passen“, sagt Kai Horn, Vertrieb- und Marketingleiter bei HighQ. Eine Folgestudie in einer anderen europäischen Stadt soll genau das zeigen.
Aber zunächst untersuchen die Freiburger zusammen mit wissenschaftlichen Partnern in Erfurt die Mobilität der Menschen. Sie soll beispielsweise in Raum und Zeit dahingehend verschoben werden, dass keine Staus entstehen, Parkraumsuchverkehr verhindert und die Innenstadt lebendig gehalten wird. Erklärtes Ziel ist es, die Frequenz im Zentrum zu steigern. Und das soll mit Anreizen erreicht werden. Wie zum Beispiel ein kostenloses Leih-Lastenrad nach dem Einkauf, ein Shuttlerservice bis vor die Tür beim Theaterbesuch oder eine Eintrittskarte zur Bundesgartenschau. Die gab es etwa im Probelauf des Projekts, der im Sommer stattgefunden hat, unrepräsentativ mit einer Gruppe von Studierenden. Sie konnten Bonuspunkte für das gewünschte Mobilitätsverhalten sammeln.
„Die Ergebnisse waren superpositiv“, sagt Horn. Nun suchen Soziologen ein repräsentatives Panel von 1000 Erfurtern aus, die dem Bevölkerungsquerschnitt entsprechen. Für sie ersinnen die Projektpartner zusammen mit den Innenstadtakteuren passende Anreize. Das Erfurter Stadtmarketing will dafür beispielsweise besondere Events schaffen. Ob die Köder den Fischen schmecken, stellt sich im dritten Quartal nächsten Jahres heraus, dann läuft der Testbetrieb. Wenn der positiv ist, will die Stadt das System direkt weiterführen.
„Das Auto ist nicht der Feind, es gehört in den Verkehrsmix hinein, bsonders E-Fahrzeuge.“
Kai Horn, Marketingleiter HighQ GmbH
Untersuchungen gezeigt hätten, dass die öffentlichen Verkehrsmittel allein nicht alle zusätzlichen Fahrgäste aufnehmen könnten. Das entspricht den Forderungen der Händler. „Man darf den Individualverkehr nicht verteufeln und auf keinen Fall bestrafen – etwa durch eine Citymaut oder überteuerte Park-gebühren“, sagt Peter Spindler, Hauptgeschäftsführer des Handelsverbands Südbaden.
Auch Thomas Kaiser, Innenstadtberater der IHK Südlicher Oberrhein, beobachtet, wie sensibel das Thema Verkehr ist. Gerade in kleineren Städten gelte: aufrechterhalten, egal wie. Denn jeder Parkplatz, der wegfalle, bedeute Umsatzverlust, sagt die IHK. In Erfurt soll zum Beispiel der richtige Zeitpunkt der Nutzung des eigenen Pkw gefördert werden – außerhalb der Stoßzeiten. Belohnen statt bestrafen, lautet dabei die Strategie.
Ausdrücklich nicht erwünscht ist bei diesem Projekt ein kostenloser ÖPNV. Erfurt will ihn nicht entwerten und die Margen nicht weiter belasten. Andernorts wird dagegen just dieses Instrument zur Innenstadtbelebung erwogen. In Heidelberg sollte beispielsweise die Nutzung von Bussen und Straßenbahnen im Stadtgebiet an den Adventswochenenden kostenlos sein. Aufgrund der Pandemieentwicklung wurde dieses Angebot allerdings ins Frühjahr verschoben. Auch Stuttgart testete an einem Wochenende September die Wirkung von kostenlosem ÖPNV. Die dortige City-Initiative wünscht sich ab 2022 an vier Samstagen pro Jahr kostenlosen Nahverkehr.
Der kostenlose ÖPNV hat seinen Preis
In Freiburg gibt es ähnliche Wünsche von Händlerseite und seitens der Stadt – allerdings verbunden mit der Frage: Was würde das denn kosten? Das wertet Dorothee Koch als gutes Zeichen. „Es wird nicht erwartet, dass wir das einfach machen müssen. Das könnten wir auch gar nicht“, sagt die Geschäftsführerin des Regioverkehrsbunds Freiburg (RVF) und rechnet vor: An einem gut besuchten Samstag nimmt allein die Freiburger Verkehrs AG knapp 45.000 Euro ein. „Das ist das Mindeste, das bezahlt werden müsste“, betont Koch. „Wir sind unseren Gesellschaftern verpflichtet, dass wir bei all den Wünschen keine Löcher in den Etat reißen.“
Dem RVF gehören 18 Verkehrsunternehmen an, darunter elf private Busunternehmen. Der RVF bietet zwar sporadisch Freifahrten im gesamten Netz, im VAG-Netz oder auf einzelnen Strecken an, die sehr großen Zuspruch finden, zuletzt beispielsweise zur Eröffnung der S-Bahn nach Elzach oder im Frühjahr 2019 zur Einweihung der neuen Rottecklinie.
„Nur weil es billig ist, geht man nicht in die Stadt. Da muss auch was los sein.“
Dorothee Koch, Geschäftsführerin des Regioverkehrsbunds Freiburg (RVF)
Aber das sind einzelne Marketingaktionen zu besonderen Anlässen, sagt Thilo Ganter, Geschäftsstellenleiter des RVF. Die für Fahrgäste günstigen Kombitickets wie das SC-Ticket, die Theater- oder Messeeintrittskarte, die zugleich als Fahrschein funktionieren, kalkuliert der Verbund aufkommensneutral. Dahinter steckt die Logik des Solidarmodells. Das heißt: Alle zahlen einen kleinen Beitrag, den der Veranstalter auf den Ticketpreis aufschlägt und an die Verkehrsbetriebe weitergibt, aber nur manche nutzen das Angebot tatsächlich.
Koch bezweifelt, dass kostenloser ÖPNV allein für Belebung in der Innenstadt sorgen kann. „Nur weil es billig ist, geht man nicht in die Stadt. Da muss auch was los sein.“ Außerdem bewege ein dichtes Fahrplanangebot mehr als der Preis die Menschen zum Umsteigen auf ÖPNV. Das sei aber gerade im Verbundgebiet noch nicht überall der Fall. Eine Ausweitung des Fahrplanangebots müsse politisch entschieden und öffentlich bezahlt werden. Aktuell arbeiten RVF und VAG gemeinsam mit der Stadt Freiburg beispielsweise an einem neuen Park-and-Ride-Konzept inklusive Fahr-schein, berichtet Ganter. Ergebnisse soll es im Frühjahr geben.
Dorothee Koch ist Geschäftführerin des Regio Verkehrsverbunds Freiburg und Unternehmensbereichsleiterin der Freiburger Verkehrs AG (VAG).
Kai Horn ist Vertriebs- und Marketingleiter des Freiburger IT-Unternehmens highQ Computerlösungen.