In Baden-Baden gibt es seit Oktober 2021 ein Muße-Literaturmuseum unter Mitwirkung der Uni Freiburg. Die Besucher können eintauchen in die Stadtgeschichte(n) mit ihren berühmten Kurgästen, Dichtern und Denkern, Liebhabern und Kritikern – dabei soll jeder selbst zum Müßiggänger werden.
VON CHRISTINE WEIS
Muße ist nicht zu verwechseln mit Muse, jener Inspirationsquelle, von der sich Kreative gerne küssen lassen, die auf die Göttinnen der schönen Künste in der griechischen Mythologie zurück geht. Und Muße? Der Begriff kommt vom mittelhochdeutschen „muoze“ und bedeutet Gelegenheit bzw. Möglichkeit. Heute versteht man darunter die „freie Zeit und innere Ruhe, um etwas zu tun, was den eigenen Interessen entspricht“. Wunderbar: Dann her mit der Muße, auf nach Baden-Baden.
Neun Uhr morgens, das Museum öffnet um zehn. Gelegenheit, vorab schon mal den eigenen Interessen zu folgen: Spaziergang durch den Park entlang der legendären Kunst- und Flaniermeile Lichtentaler Allee. Die Sonne bricht durch den Herbstnebel, so dass die Installation einer riesigen blauen Sonne von der Fotografin Katharina Sieverding an der Außenfassade des Frieder-Burda-Museums imposant glitzert. Die Bäume haben ihr buntes Herbstkleid an und strahlen mit. Es sind kaum Menschen unterwegs, nur einzelne Jogger blasen Atmen-Wolken in die Luft.
Im Kurpark dann die erste geführte Besuchergruppe. Das Casino ist noch geschlossen und in der historischen Trinkhalle beleben einzig die Figuren der riesigen Wandbilder den Säulengang. Eine der nächsten Brücken führt über die Oos, Ziel erreicht: Das Muße-Literaturmuseum ist in die Stadtbibliothek, eine historische Villa an der Luisenstraße, integriert. Helle Räume, offener Treppenaufgang, Terrasse, Café, Lesesessel und -tische entlang der Fensterfronten und in intimen Ecken sowie angenehme Ruhe beeindrucken vermutlich nicht nur Bücherfreunde.
„Das Museum soll Lust machen und keinen Bildungskanon abhandeln.“
Sigrid Münch, Leiterin Stadtbibliothek und Muße-literaturmuseum BAden-Baden
Im Dachgeschoss der Villa befindet sich der Hauptteil der Ausstellung. Dort erklärt Sigrid Münch, Leiterin der Bibliothek und Mitkuratorin, das Konzept der Ausstellung: „Das Museum soll Lust machen und keinen Bildungskanon abhandeln.“ Es gehe darum, sich auf etwas einzulassen, das gefällt und interessiert.
Dabei sorgen unterschiedliche interaktive Elemente wie animierte Filme, Audiotakes und bequeme Sitzmöbel für entspannte Unterhaltung. Die 16 Stationen der Ausstellung sind auf den drei Stockwerken der Bibliothek verteilt. Alle Themen haben einen Bezug zu Baden-Baden: geschichtliche Ereignisse von der Römerzeit bis heute, Badekultur, Reisen, Glücksspiel, Literaten, Fürsten, Philosophen, Musiker oder Komponisten. Über 100 Schriftstellern, die hier lebten oder zu Besuch waren, kann man begegnen: Von Ingeborg Bachmann bis Ludwig Börne.
Musealer Müßiggang
Die großen Tafeln, die sich wie Bücher aufblättern lassen, und Schubladen sind voller Überraschungen. Wer mag kann auch an Reinhold Schneiders Schreib-Kachelofen lehnen oder auf Otto Flakes Sessel Platz nehmen. Beim Museumsrundgang erfährt man, wer hier welchen Interessen folgte: Dostojewski spielte Roulette. Mark Twain mochte nur die Heilquelle:
„Es ist eine geistlose Stadt, voll von Schein und Schwindel und mickerigem Betrug und Aufgeblasenheit, aber die Bäder sind gut.“
Mark Twain
Psychoanalytiker Georg Walther Groddeck ließ in seinem Sanatorium das Essen auf Puppengeschirr servieren. Eine skurrile Diätmaßnahme mit eigenwilligen Speisen wie „Das-Schicksal-bin-ich-selbst-Suppe“ und „Unbehagen-an-der-Kultur-Gulasch“. Einen Raum weiter geht es um die Liebschaft des russischen Schriftstellers Ivan Turgenev zur französischen Opernsängerin Pauline Viardot-Garcia. Dabei war er nicht ihr der einzige Verehrer. Auch Franz Liszt und Theodor Storm kamen oft ins Hause Viardot.
Von den Künstlerkreisen des 19. hinüber ins 20. Jahrhundert zum damaligen Südwestfunk. Der ehemalige Programmdirektor Lothar Hartmann führte 1958 die anspruchsvolle Hörfunk-Senderreihe „Die Aula“ ein, denn „seit der Einführung der 5-Tage-Woche in zahlreichen Betrieben würden immer mehr Väter am Samstagvormittag zu Hause rumbosseln und auch zu dieser Zeit mal Radio hören wollen“. Ist „rumbosseln“ nicht schon Muße – auch ohne Radio?
Von der Uni ins Museum
An der Uni Freiburg gibt es einen Sonderforschungsbereich (SFB) zum Thema Muße. Seit rund 10 Jahren wird das Phänomen fakultätsübergreifend in verschiedenen Kontexten untersucht. Das Spektrum reicht von architektonischen Mußeräumen der Moderne, über Muße im Wald bis zu Muße im Marxismus.
Das Museum in Baden-Baden gilt als Transferprojekt der geisteswissenschaftlichen Fakultät und soll die bisherigen Erkenntnisse in praktischer Form einer breiteren Öffentlichkeit vermitteln. Die Freiburger Slavistik-Professorin Elisabeth Cheauré leitet den SFB und kuratiert zusammen mit der Literaturwissenschaftlerin Regine Nohejl und Sigrid Münch die Dauerausstellung.
Cheauré beschreibt Muße als einen Zustand, bei dem der Mensch nicht zweckbestimmt, sondern frei von Zwängen sei. Das bedeute nicht, dass Muße ausschließlich in der Freizeit, beim Nichtstun oder Chillen erfahrbar sei, sondern auch bei der Arbeit. Ob sie sich beim Gang durchs Museum einstellt, kann jetzt jeder selbst in Baden-Baden ausprobieren. Wenn nicht, dann ist die Lichtentaler Allee nicht weit, vielleicht kommt sie da, die Muße.