Zwei Jahre Pandemie haben unser Leben auf den Kopf und unsere Belastbarkeit auf die Probe gestellt. Einschränkungen, Verzicht und Neubesinnung bestimmen auch unsere Art zu reisen. Gleichzeitig ist die Sehnsucht nach Urlaub und Erholung groß wie nie. Wie verändert sich gerade unser Reiseverhalten?
VON ANNA-LENA GRÖNER
Was bedeutet uns Reisen?
„So ein Stillstand, wie wir ihn durch Corona erlebt haben, war fast mal nötig. Es brauchte einen Dämpfer, damit wir wieder begreifen, was uns reisen eigentlich bedeutet“, sagt die Berliner Reisebloggerin Nina Hüpen-Bestendonk bei der Veranstaltung „Reisen im Stillstand“, Ende Januar im Literaturhaus Freiburg.
Was bedeutet uns Reisen? Es war und ist Abwechslung zum Gewohnten, Erholung vom Alltag, eine Zeit, um die eigenen Batterien aufzuladen und sich selbst zu belohnen – ob mit Nichtstun, Kulturprogramm, Bewegung oder gutem Essen.
„Nach zwei Jahren Einschränkungen wird vielen Menschen bewusst, dass es sich beim Reisen nicht um eine Selbstverständlichkeit handelt, sondern um einen Luxus, der auf einer stabilen und gesunden Umwelt beruht“, sagt die Tourismussoziologin und Autorin Kerstin Heuwinkel von der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Saarbrücken. Als Autorin hat sie die Bücher „Tourismussoziologie“ und „Frauen im Tourismus“ verfasst.
„Auch wenn das Reisen für viele Menschen seit den 70er Jahren zur Normalität gehört, enthält es immer ein wenig Abenteuer und die Möglichkeit, in einem geschützten Umfeld etwas Neues zu entdecken.“ Die Suche nach Neuem und die Lust auf Abenteuer haben unser Reiseverhalten mit der Zeit und angetrieben durch die Digitalisierung in eine ganz andere Richtung gelenkt: Die breite Nutzung von Social-Media-Kanälen und die dort stattfindende Zurschaustellung fremder Urlaubserlebnisse beeinflusst uns.
So kommt es vor, dass viele auf der Suche nach scheinbar neuen Ufern oft auf vorgelegten Fährten reisen. Am Ziel treffen sie viele andere, die die gleiche Idee hatten. Diese Eigenschaft eint viele, die ihre Reiseorte auf Instagram auswählen. Sozialer Druck steuert das Verreisen. Wer vor Corona nicht mindestens einen Urlaub im Jahr buchte, lief fast Gefahr als langweilig und weltfremd belächelt zu werden.
Und jetzt? Reisen ist zumindest am Beginn der Pandemie zum Tabuthema geworden, wer ins Flugzeug stieg, kam in Erklärungsnot. Stichworte wie Flugscham und allgemein der Klimawandel haben das Reisen ebenfalls beeinflusst: Es wurde vermehrt im eigenen Land gereist, anderweitige Flugemissionen durch Baumpflanzaktionen im Regenwald ausgeglichen. Ein Trend der bleibt? Ein kurzer Exkurs zur Geschichte unseres Reiseverhaltens.
Eine kurze Chronologie des Reisens
Der wirtschaftliche Aufschwung der 1950er Jahre machte es möglich, dass sich immerhin 15 Prozent der Deutschen einen Urlaub leisten konnten. Am liebsten an die Ost- oder Nordsee. Aber auch „Gesellschaftsreisen“ in den Schwarzwald waren populär. Filme wie „Das Schwarzwaldmädel“ (1950) warben mit romantischer Tannenkulisse und heiler Welt. In den Sechzigern wurde vermehrt mit dem eigenen Auto gereist, auch über Landesgrenzen hinweg. Italien, Spanien und Österreich lockten die deutschen Touristen.
Erst in den 70er Jahren war der Massentourismus mit Flugzeugreisen auch für Otto Normal erschwinglich. Cluburlaube und Pauschalreisen kamen in Mode. In den Achtzigern reiste vor allem die Jugend per Anhalter oder mit dem Zug und dank Interrail erschwinglich durch die Nachbarländer.
Mit den 90ern kamen intensive Fernreisen auf das Radar, es gab weitere Neuland-Destinationen. Seither war der Tourismus eine scheinbar nicht aufzuhaltende Wachstumsbranche. Das extreme Reiseverhalten brachte viele beliebte Reiseziele zeitweise an die Grenzen, touristischen Hotspots drohte zu Ferienzeiten fast der Kollaps.
Auch die Region Hochschwarzwald verzeichnete noch im Jahr 2019 mit 2,9 Millionen Übernachtungen einen neuen Rekord. Der Einbruch der Rekordmeldungen kam mit der Pandemie. Zwar pilgerten Tagesausflügler nach wie vor in Scharen in den Schwarzwald, dennoch kamen im Zeitraum von Januar bis September 2020 fast 50 Prozent weniger Gäste als zur Bestmarke 2019 in die Ferienregion. Die Übernachtungen gingen um 38,8 Prozent zurück.
Von Verzicht und Sicherheit
Pandemie-Einbruch, Verzicht, Flugscham? Haben wir aktuell nicht auch die Schnauze voll vom Verzichten? Reisen wir doch bald wieder wie gewohnt, ohne schlechtes Gewissen und möglichst weit weg? „Ich gehe davon aus, dass sich der vorige Wachstumstrend und auch die Fernreisen nach der Pandemie fortsetzen werden“, sagt Nora Winsky, Tourismusforscherin und Mitglied des Forschungskollegs „Neues Reisen und neue Medien“ an der Universität Freiburg.
Der Blick auf die letzten Jahrzehnte habe gezeigt, dass sich nach jeder die Zäsur, die es gab – die Finanzkrise oder der Anschlag vom 11. September 2001 – die Reiseunsicherheiten immer wieder eingependelt haben. „Die Lust zu reisen ist groß und hat sich sicherlich in den letzten beiden Jahren noch gesteigert, was auch damit zusammenhängt, dass unser Alltag und unsere Arbeit zunehmend verschmelzen. Das hat die Pandemie zum Beispiel durch das Thema Homeoffice noch einmal verstärkt. Der Wunsch daraus auszubrechen, ist aktuell sehr präsent“, sagt Winsky.
Das beobachtet auch Aron Stiefvater, Geschäftsführer des gleichnamigen Reisebüros mit Filialen in Weil am Rhein, Lörrach und Rheinfelden. „Wir spüren in vielen Gesprächen mit Neukunden aber auch mit unseren Stammkunden, dass die Reiselust und das Fernweh immens groß sind, die Gesellschaft lechzt nach Erlebnissen“, sagt er.
Zwar werde noch nicht verstärkt gebucht, aber die Nachfrage sei da. Und das Vertrauen der Reisenden in sein Team sei durch die Pandemie gewachsen. Sicherheit ist somit ein Thema, das lokalen Reiseanbietern zugutekommt und die Reiseangebote in den kommenden Jahren verändern wird.
„Vor Ausbruch der weltweiten Corona-Pandemie waren wir darauf spezialisiert, individuelle Bausteinreisen für Kunden zusammenzustellen. Seit dem touristischen Neustart nach dem weltweiten Lockdown raten wir aber klar, ein pauschales Paket zu buchen. Hier kommt alles aus einer Hand eines Reiseveranstalters, der für die Durchführung haftet und der Kunde ist durch Reiserichtlinien der EU bestmöglich abgesichert“, sagt Aron Stiefvater.
Am Urlaubsort angekommen, könnten sich Reisende dennoch vermehrt spontan für Vor-Ort-Angebote, Städtetrips, Theaterbesuche oder Ausflüge entscheiden. „Durch die Digitalisierung wird vieles kurzfristiger und dadurch auch schwieriger vorherzusehen oder zu berechnen“, sagt die Tourismusforscherin Nora Winsky.
Das sei die Herausforderung, der sich die touristischen Anbieter stellen müssten. Reisen ist komplizierter geworden. Ein „back to normal“ wird voraussichtlich dennoch wieder kommen, egal wie jeder dazu stehen mag. Die Tourismussoziologin Kerstin Heuwinkel rechnet damit: „Das Bewusstsein für den Wert des Reisens und die damit verbundenen Gefühle werden – zumindest bei den ersten Reisen – intensiver sein als zuvor. Wie lange sich das hält, bleibt abzuwarten.“