Einst gehörten Sattler zur Belegschaft beinahe jeder Autowerkstatt. Und es gab fast in jedem Ort eine Sattlerei. Heute ist beides rar geworden. Einer der wenigen Vertreter dieses Handwerks ist Günther Glahn. Sein Spezialgebiet: Oldtimer.
TEXT: CHRISTINE WEIS | FOTOS: MARCEL BISCHLER
„Leder lebt“ heißt es auf dem schlichten Schild, das den Weg in die Sattlerei in Leutersberg, an der Straße zwischen Schallstadt und St. Georgen, weist. Es verrät noch nicht, dass hinter der Mauer eine überraschende Reise in die Vergangenheit beginnt. Schon vor dem Eingang zur Werkstatt steht ein auf Hochglanz polierter schwarzer Oldtimer, der so auch beim Filmset für „Babylon Berlin“ stehen könnte. Obwohl der Wagen 85 Jahre auf dem Buckel hat, präsentiert er sich innen wie außen makellos. „Das ist eine BMW-Limousine 321, Baujahr 1938“, erklärt Günther Glahn. Für eine komplette Restaurierung der Innenausstattung eines solchen Modells benötigt er rund drei Monate. Dabei erneuert er Sitzpolster und -bezüge, Dachhimmel, Armaturen, Türtafel und Teppichboden mit Leder und Stoffen – sofern möglich mit originalen Materialien.
Schnittmuster fertigt Günther Glahn selbst an: „Die Schnitte kann man nicht mal eben im Internet bestellen oder herunterladen.“ Schließlich existierten diese Autos bereits lange vor dem World Wide Web. In der Sattlerei gibt es keinen Computer. Glahns Arbeitsmittel sind Nähmaschine, Lederschärfer, Klebertopf und eine Vielzahl an Werkzeugen wie Ahle, Falzbein, Geißfuß, Halbmondmesser, Henkellocheisen, Polsterhammer und Nadel. Von den einzelnen Fertigungsphasen macht er Fotos zur Dokumentation. Dieses Bildarchiv dient ihm als eine Art Montagehandbuch und ist zugleich eine Oldtimersammlung von Borgward bis Isetta. Auch an der Benz Victoria Motorkutsche hat Glahn bereits Hand angelegt. Von diesem ersten motorisierten Auto wurden 1894 nur zwei Stück hergestellt. Eines davon befand sich bis vor wenigen Jahren im Besitz der Unternehmerfamilie Gütermann aus Gutach.
Werkbank statt Schreibtisch
Tritt man über die Schwelle in die Werkstatt, erklingt eine kleine Kuhglocke. In dem niedrigen Raum mit Dielenboden und Holzdecke steht ein Holzofen mit Wasserkessel. Stoff- und Lederbahnen, Lacke, Garnrollen und Einfassbänder füllen die Regale. An der Decke hängt eine alte handgenähte Tasche. Schwarz-weiße Fotografien und blecherne Markenabzeichen von Automarken wie Fiat schmücken die Wände. Doch die Werkstatt ist kein Museum: Seit 35 Jahren ist sie Arbeitsplatz von Günther Glahn. Dazu gehören noch ein schmaler Lagerraum und eine Garage, wo er gerade das Verdeck eines Mercedes Cabrios ausbessert. Auf der Werkbank liegt ein Sitzpolster eines Bentleys Baujahr 1947. „Für diesen britischen Wagen verwende ich Connolly-Leder aus England“, erklärt der 58-Jährige. Denn das Ergebnis müsse so originalgetreu wie möglich sein.
Wie kam Günther Glahn zum Handwerk? „Als ich Anfang der Achtzigerjahre direkt nach der Hauptschule eine Handwerkerausbildung beginnen wollte, gab es in Freiburg gerade mal drei freie Lehrstellen.“ Doch keine davon interessierte ihn. Damals strömten die geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer auf den Arbeitsmarkt. Zum Vergleich: Die Handwerkskammer Freiburg zählte dieses Jahr im Oktober 151 offene Stellen.
„Ich rate jedem, der noch nicht weiß, wohin die berufliche Reise gehen soll, zum Praktikum.“
Günther Glahn
Hätte Glahn eine der drei freien Lehrstellen angenommen, wäre er heute Bäcker oder Metzger. Stattdessen entschied er sich für ein Praktikum in einer Sattler- und Polsterei, wo er im Anschluss dann seine Lehre machte. „Ich rate jedem, der noch nicht weiß, wohin die berufliche Reise gehen soll, zum Praktikum“, sagt der Sattler. Nach der Lehre leistete er Zivildienst in einem Altenpflegeheim und machte sich danach – bereits mit 24 Jahren – selbstständig. Seitdem betreibt er seine Werkstatt in Leutersberg. Weil er schon immer ein Faible für Oldtimer hatte, lag es für ihn bald auf der Hand, das Hobby zum Beruf zu machen.
Glahn ist überzeugt: Hätte er heute die Wahl, würde er sich wieder fürs Handwerk entscheiden. „Im Büro sitzen, vorm Computer die Maus hin- und herschieben, das würde mich unglücklich machen.“ Alle Arbeiten selbst auszuführen und am Ende des Tages ein Ergebnis zu sehen, sei für ihn erfüllend. Bis man sein Handwerk richtig beherrscht, dauert es allerding sehr lange, betont der Sattler. „Nach drei Lehrjahren hat man die grundlegenden Fähigkeiten, dann sammelt man Erfahrungen. Man braucht Zeit und Geduld, was leider nicht mehr in unsere schnelllebige Welt passt.“ Genau wie auch die Tatsache, dass heute Vieles weggeworfen wird, anstatt es zu reparieren. Dabei könne eine sorgfältige Reparatur nicht nur die Lebensdauer eines Produkts verlängern, sondern auch den Wert von Herstellung und Materialien bewahren.
„Im Büro sitzen, vorm Computer die Maus hin- und herschieben, das würde mich unglücklich machen.“
Günther Glahn
Günther Glahn hat mit seiner Sattlerei eine zeitlose Nische gefunden. Etwa 90 Prozent des Arbeitsvolumens in dem Ein-Mann-Betrieb entfallen auf die Restauration von Oldtimern. Gelegentlich übernimmt er auch Reparaturen an Schaltsäcken oder Gepäckabdeckungen neuerer Modelle. Es gebe zahlreiche Anfragen für Lederarbeiten, die er nicht alle bedienen könne. „Nicht weil man viel Geld verdient, ist das Handwerk Gold wert, sondern weil es immer weniger Handwerker gibt“, sagt er.