Der Begriff kursiert seit den Nullerjahren. Aber was ist Sharing Economy eigentlich? Versuch einer Definition.
VON KATHRIN ERMERT
Der Grundgedanke der Wirtschaft des Teilens ist, dass Konsum nicht auf individuellem Besitz beruhen muss. Dass materielle oder geistige Güter und Ressourcen nicht einer Person allein zur Verfügung stehen, sondern mehrere Menschen sie abwechselnd nutzen. Das Prinzip gibt es schon seit Langem. Klassische Beispiele sind Bibliotheken, öffentliche Schwimmbäder oder Waschsalons. Zum Teil wird Sharing praktiziert, ohne dass es so heißt, etwa bei Berufsbekleidung, Hotelwäsche oder Schmutzfangmatten. Viele Drucker und Kaffeemaschinen stehen zur Miete in Büros. Mitfahrgelegenheiten führten schon lange vor Blablacar oder Carsharing zu einem ähnlichen Resultat, nämlich Autos optimaler zu nutzen und günstige Fahrten zu bieten. Auch Genossenschaften praktizieren eine Form von Sharing Economy. Ein wesentlicher Unterschied ist jedoch, dass da die Anwender zugleich die Eigentümer sind. Also nicht: nutzen statt besitzen, sondern nutzen und besitzen.
„Die Idee des Teilens ist sehr alt“, sagt Urs Fischbacher, Professor für Verhaltensökonomie an der Uni Konstanz und Leiter des Thurgauer Wirtschaftsinstituts in Kreuzlingen. „Wenn man etwas erjagt hatte, machte es Sinn, das Tier zu teilen, gerade, wenn es besonders groß war.“ Damit bezweckte man, beim nächsten Mal vom anderen etwas abzubekommen. Carsharing basiere auf der gleichen Idee: dass man kein ganzes Auto allein braucht. Neu ist laut Fischbacher lediglich der technologische Aspekt, der Teilen in größerem Maßstab begünstigt.
Internet und Smartphones haben völlig neue Möglichkeiten für die Sharing Economy geschaffen. Per App oder Plattform lässt sich vieles einfacher teilen – beispielsweise Wohnungen (Airbnb, Couchsurfing), Filme (Netflix, Amazon, Disney), Musik (Spotify) und außer Autos auch Fahrräder, Roller oder Scooter. Teilen, Tauschen, Schenken, Leihen, Mieten, Leasen: Wo hört Sharing auf, wo fangen andere Dienstleistungen an? Wenn das Streamen von Filmen oder Musik zur Sharing Economy zählt, gehören Kinos oder Konzerte dann auch dazu? Eine Eingrenzung ist nicht so einfach. „Es kommt drauf an, welchen Wissenschaftler man fragt“, sagt Martin Ritter. Der Postdoc im Fach Environmental Governance am Institut für Umweltsozialwissenschaften und Geographie der Uni Freiburg hat über Sharing Economy promoviert. Er zieht die Grenzen nicht so scharf, sieht die Übergänge fließend.
Von der sozialen Idee entfernt
Ritter kann sich noch gut an einen Kongress vor mehr als zehn Jahren in Berlin erinnern. „Damals herrschte eine richtige Aufbruchstimmung. Viele dachten, Sharing Economy kann die Art und Weise wie wir konsumieren revolutionieren“, erzählt der Wissenschaftler, der bei der Arbeit an seiner Doktorarbeit einen kritischen Blick auf die Wirtschaft des Teilens gewonnen hat. Vor allem hinsichtlich seines Schwerpunkts Carsharing, das nicht, wie erhofft, zur Verkehrswende beigetragen habe. Auch bei manchen Fahrrad- oder Rollerverleihern hat sich Ernüchterung breit gemacht. Aus China kursierten vor ein paar Jahren Bilder von Leihradfriedhöfen mit zehntausenden Schrotträdern. Städte haben zwischenzeitlich mit Regulierungen auf die anfängliche Schwemme von Zweirädern reagiert.
„Revolutionspotenzial hat die Sharing Economy leider nicht.“
Martin Ritter, Institut für Environmental Governance an der Uni Freiburg
Konnten sich solche Investitionen überhaupt rechnen? „Da gibt es verschiedene Erzählungen“, antwortet Ritter. Eine sei, dass bei den Angeboten nicht das Verleihgeschäft, sondern der Gewinn von Daten im Mittelpunkt stand. Wie bewegen sich die Menschen in den Städten? Diese Information ist für die Zukunft des autonomen Fahrens äußerst wertvoll. Das erklärt auch, warum die großen Autobauer Mercedes und BMW auf dem deutschen Carsharing-Markt mitmischten. „Ich glaube, das war die Vorbereitung. Deshalb waren die bereit zu investieren“, vermutet Ritter. Zudem eigneten sich Leihräder und -roller, um digitale Bezahlmodelle auszuprobieren.
Dagegen ist die ursprüngliche Idee der Sharing Economy eine soziale. Ihre Vordenker wie der Ökonom Jeremy Rifkin und die Publizistin Rachel Botsman dachten Anfang der Nullerjahre, dass sich der Kapitalismus verändert und sich der Mensch vom Homo Oeconomicus zum Homo Collaboratius wandelt. Manch eine Plattform, die entstand, um private Partner zu vernetzen, hat sich allerdings so professionalisiert, dass sie sich von der sozialen Idee entfernte. Die besten Bespiele dafür sind Airbnb und Ebay. Das Gegenmodell zu Airbnb ist Couchsurfing. Dabei steht nicht der finanzielle, sondern der kulturelle Aspekt im Vordergrund. Aber Geld kostet auch das. „Alles, was bleibt, braucht ein funktionierendes Geschäftsmodell“, sagt Ritter. „Irgendwer muss zahlen, allein schon, um die Plattform am Laufen zu halten.“ Er zählt drei Beispiele mit verschiedenen Finanzierungsstrategien auf: Bei Couchsurfing muss man Mitglied sein, um ein Sofa anbieten oder nutzen zu können, Wikipedia sammelt Spenden, und kommerzielle Plattformen wie Ebay verlangen einen Preis pro Transaktion.
Potenzial im B2B
Martin Ritter, der sich zu Beginn seiner Doktorarbeit selbst von der Aufbruchstimmung hatte anstecken lassen, zieht eine recht nüchterne Bilanz: „Revolutionspotenzial hat die Sharing Economy leider nicht.“ Dennoch sieht er Chancen für die Wirtschaft des Teilens. Ein Grund: Weil in den westlichen Industriegesellschaften die Märkte zunehmend gesättigt sind, verschiebt sich der Fokus vom Produkt zur Dienstleistung. Der niederländische Philips-Konzern machte es vor. Er verkaufte nicht nur Lampen, sondern auch Licht, also den Service, dass Räume beleuchtet sind. Seit 2016 ist die Sparte Lighting ein eigenes Unternehmen und heißt seit 2018 Signify.
Ein zweiter Grund ist die europäische Pflicht für Nachhaltigkeitsberichte (Corporate Sustainability Reporting Directive, kurz: CSRD). Sie schafft vor allem im B2B-Bereich neue Möglichkeiten für Sharing Economy. Denn wenn Firmen ihre Produkte vermieten oder verleihen und somit Zugriff darauf behalten, erleichtert das später beispielsweise sortenreines Recycling und somit die geforderte Kreislaufwirtschaft. Auch finanziell kann sich Sharing lohnen, besonders bei großen, teuren Produkten. Überspitzt formuliert: nicht bei Büroklammern, aber bei Baumaschinen. Das zeigt der Werkzeughersteller Hilti, der seine Geräte zum Leasen anbietet.
„Bisher ist noch keine Bereitschaft für einen Systemwechsel zu erkennen.“
Detlef Lohmann, geschäftsführender Gesellschafter Allsafe, Engen
Auch Zurrgurte und andere Produkte zur Ladungssicherung könnten vermietet statt verkauft werden. Das findet zumindest Detlef Lohmann. Der geschäftsführende Gesellschafter der darauf spezialisierten Firma Allsafe aus Engen (Kreis Konstanz) berichtete vergangenes Jahr im Interview mit netzwerk südbaden über entsprechende Überlegungen. Er suche nach Lösungen, um den Ressourcenverbrauch und damit den CO2-Fußabdruck seines Unternehmens zu reduzieren, sagte Lohmann. Aber wenn der Verkauf von Gütern nicht mehr für Umsatz sorge, brauche es ein anderes Geschäftsmodell. Seine Idee: Sie stattdessen vermieten und reparieren, gestützt mit Software, Sensorik und künstlicher Intelligenz. Es sollte ein System der Kreislaufwirtschaft werden, das sich verselbständigt. Er nannte es „Blueserve“, in Anspielung auf den „Bluetooth“-Standard.
Nachfrage knapp anderthalb Jahre später: Wie sind Sie diesbezüglich vorangekommen, Herr Lohmann? Die Antwort klingt ernüchternd: „Wir arbeiten noch sehr intensiv in unserem Markt an diesem Thema“, schrieb der Unternehmer. „Bisher ist jedoch noch keine Bereitschaft für einen Systemwechsel zu erkennen.“