Die Konzertreihe „Stimmen“ in Lörrach und Umgebung nimmt nicht nur wegender Schauplätze in drei Ländern einen besonderen Rang im Sommerkalender ein – auch inhaltlich bietet es Exzellenz. Was sind die kulturellen und wirtschaftlichenHintergründe, vor denen das Festival stattfinden kann?
Von Rudi Raschke
Geübten Konzertgängern kommen die Festivals in der südbadischen Landschaft möglicherweise austauschbar vor: Zu beliebig, zu altmodisch, zu früher-war-alles-besser. Manchmal weiß man nicht, ob es an der Erwartungshaltung des Publikums oder tatsächlich an der fehlenden Fantasie der Macher liegt. Markus Muffler, seit 2011 Chef des Lörracher „Burghofs“ und der „Stimmen“-Konzerte hat etwas gegen diese Vorwürfe: Ein handverlesenes Festival, wie er es nennt. „Kennen Sie sich ein bisschen aus mit Musik?“ fragt er höflich bei der Begrüßung in seiner Burghof-Bürokammer. Was keiner, der ab und an über Kulturelles berichtet, verneinen mag. Am Ende des Gesprächs wird man wissen, warum er danach gefragt hat: Mit Muffler über sein sorgfältig kuratiertes Programm, seine Inspiration und Interessen zu sprechen, hat etwas von einem Gespräch beim Plattenhändler des Vertrauens. Das kennen die meisten heute nur noch aus ihrer Jugend oder aus Nick Hornbys Roman „High Fidelity“.
Muffler steigt dann auch mit einem kleinen Exkurs über die unsinnige Trennung von E(rnster)- und U(nterhaltungsmusik) ein, die ihn als Veranstalter beschäftigt – weil es eben keine musikalisch hochwertige Popkultur gibt hierzulande, die auch am Markt erfolgreich ist. Muffler schwärmt von Bands wie Roosevelt aus Köln, die an der US-Ostküste größere Clubs bespielen als in ihrer Heimat. Er kritisiert die tausend Tode, die dieser Anspruch mit dem Sterben individueller Plattenläden und Musikmagazine sowie der SWR3-isierung öffentlicher-rechtlicher Radios zu Industriepromotern erlitten hat. Was das alles mit der Wirtschaftlichkeit einer sommerlichen Konzertreihe wie den seit 25 Jahren ausgetragenen „Stimmen“ zu tun hat? Nun, Muffler hat nicht zuletzt aus solchen Gründen den Anspruch, „das zu zeigen, was man sonst nicht sieht“. In diesem Jahr Rufus Wainwright und Liam Gallagher auf der großen Bühne am Lörracher Marktplatz, aber auch Geheimtipps wie die famosen Songhoy Blues, eine Rockband aus Mali. In den vergangenen Jahren sind Künstler wie Bob Dylan und Neil Young, aber auch Grace Jones bei „Stimmen“ aufgetreten. Markus Muffler sagt klar, für wen er und sein Team das machen: Als „ein gut ausgebildetes Publikum“ bezeichnet er seine Festivalgänger. Und anders als es das Klischee vorsieht, sind diese Leute vielleicht mit ihrer Bildung auch ein wenig zu Geld gekommen und wissen nicht nur gute Kultur zu schätzen. Jedenfalls lockt das Festival auch zunehmend Übernachtungsgäste aus einem Radius über 200 Kilometer ins Dreiländereck.
Eine Studie der Uni St. Gallen hat 2015 bestätigt, dass über die ebenso renommierten Gastspiele im Burghof wie mit den „Stimmen“ eine Wertschöpfung von knapp 4 Millionen Euro nach Lörrach und Umgebung findet. Das relativiert die 1,2 Millionen Zuschüsse, die der Kommune diese Institutionen wert sind. Die indirekten Effekte für das Image des Städtchens sind ohnehin unbezahlbar. Das „Stimmen“-Festival kann sich aber auch darauf verlassen, dass es in einer „urbanen Großregion“ stattfindet, wie Muffler es nennt. Dieses spannende Einzugsgebiet über die 50.000-Einwohner- Gemeinde hinaus schafft bei den Konzerten übrigens auch eine gelebte Trinationalität: Die Konzerte finden ja in vier Orten in Deutschland, Frankreich und der Schweiz an sieben Spielstätten statt. Muffler sagt, er müsse dabei keine Rücksicht darauf nehmen, ob die Band Fat Freddy’s Drop nun im französischen Arlesheim mehr Anklang fände oder im schweizerischen Riehen. Er kann die Künstler so zuordnen, wie es die jeweiligen Kapazitäten bis hoch zum Marktplatz-Fassungsvermögen von 5.500 Plätzen zulassen. Grenzen überwindet sein Publikum gern. Und ganz antizyklisch kennt er mit seinem Programm auch die Probleme nicht, die andere Veranstalter dieses Jahr durchleiden: Denn noch im Vorfeld eines möglichen Zuschauermangels ist es einigen Ausrichtern nicht gelungen, Künstler aufzutreiben.
Ein Festival-Überangebot in der Region, bei dem sich die James Blunts, Amy Mac- Donalds und Adel Tawils zwischen Schopfheim, Emmendingen und Bad Krozingen nicht mehr beliebig vermehren ließen. Die „Stimmen“-Positionierung hat dagegen dazu geführt, dass alle Großkonzerte für den Lörracher Marktplatz im Januar gebucht waren. Planungssicherheit dank besonderen Profils. Wirtschaftlich nähert sich der Etat der 1,5-Millionen-Marke, das Sponsoring treuer Partner wie der badenova sei „überlebensnotwendig“, sagt Muffler. 40 Prozent des Etats tragen sie aktuell bei. Diese Form der Unterstützung ist ganz offensichtlich nicht „out“ – wenn man sich wie „Stimmen“ um eine enge Beziehung zu den Werbepartnern bemüht. Bei den Personalkosten wirkt sich die Nähe zur Schweiz in Form von 30 Prozent Mehraufwänden aus. Und der Mindestlohn hat dazu geführt, dass die Jahrespraktika, die gegen Bezahlung eine Spielzeit Projektarbeit vorsahen, nicht mehr angeboten werden können. Auf der anderen Seite hat sein Team beim Marketing in Sachen Digitalisierung einen Paradigmenwechsel absolviert – weg von klassischen Medienpartnerschaften, hin zu effizientem „Targeting“ online.
Damit werden heute auch Fans von Altrockern wie Robert Plant zielsicher erreicht. Oft zum Einsatz von nur 10 Prozent gegenüber klassischen Werbeformen – die Tradition des individuell-künstlerisch gestalteten Plakats einer Hamburger Agentur gönnen sich die „Stimmen“ aber weiterhin. Obwohl die Personalkosten höher sind als in Freiburg und die Bühnentechnik für die Schweiz-Konzerte auch dort angemietet wird, will sich Muffler keine höheren Preise als die in Freiburg üblichen vorstellen: Er spricht vom „Fan-Festival“, vom „öffentlichen Auftrag“, der sich darum bemühe, dass es auch in der Region Zugang zu hoher kultureller Qualität für viele gebe. Das Gespräch wechselt im Pingpong zwischen harten wirtschaftlichen Fakten und künstlerischen Vorlieben hin und her. Der gebürtige Lahrer Muffler vereint beides in seiner Biografie: Er hat an seinem früheren Wohnort London nicht nur die angelsächsische Neugier auf Jazz, Pop und Klassik in allen Varianten kennen lernen dürfen. Sondern war als studierter Volkswirt acht Jahre als Investmentbanker tätig, nach der Rückkehr ins Badische widmete er sich nach seinem Ausstieg dann 2008 ganz anderen Portfolios. Die seltene Ambivalenz fasst er mit einem Satz zusammen, der auch sein Programm prägt: „Das Risiko kenne ich von früher“.